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Magazin / Das Marco Polo Syndrom

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Vorwort der Herausgeber
Gerhard Haupt und Bernd M. Scherer

Flavio Garciandía: Das Marco Polo Syndrom

Flavio Garciandía:
Das Marco Polo Syndrom, 1986
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In "The Post-Colonial Critic" plädiert Gayatri C. Spivak für ein Moratorium des westlichen Theorie-Establishment, Vorschläge für die Lösung globaler Probleme zu präsentieren. Mit Sicherheit wird sich niemand daran halten. Aber im Grunde steht dahinter wohl vor allem eine Sorge, die der kubanische Theoretiker, Kritiker und Kurator Gerardo Mosquera, von dem der Titel des Themenschwerpunkts dieses Heftes übernommen wurde, etwas dezenter geäußert hat. Er sieht im gegenwärtigen Verständigungsprozeß über das Interkulturelle die Gefahr, daß der Westen der Dritten Welt seine Vorstellungen davon und seine Kritik des Eurozentrismus überstülpen will. "Ohne die gute Absicht des westlichen Ansatzes diskreditieren und den unstrittigen Wert von Selbstkritik in Zweifel ziehen zu wollen, würde doch ein Fehler wiederholt werden, der aus einer uniformen und machtorientierten Perspektive entsteht." [1]

Gefahr erkannt - Gefahr gebannt? Nicht zwangsläufig. Zumindest erheben wir mit diesem Heft nicht den Anspruch, ein sehr komplexes Phänomen umfassend abzuhandeln. Offensichtlich hat heute ohnehin niemand, weder im "Westen" noch im "Süden", ein Rezept parat, wie Vorbehalte, Vorurteile und Feindseligkeiten zwischen Menschen, die sich verschiedenen Kulturen zuordnen, praktisch aufzulösen wären. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Bereich der Kunst in nichts von der allgemeinen Ratlosigkeit darüber, wie sich ein vernünftiger Umgang der Bewohner unseres Planeten miteinander verwirklichen ließe. Während die wirtschaftliche und mediale Vernetzung voranschreitet, Globalisierung zum beliebten Schlagwort geworden ist und das Bewußtsein einer globalen Schicksalsgemeinschaft angemahnt wird, zerfällt die Welt zusehends und immer neue Konflikte brechen auf. Aber gerade deshalb muß um so mehr das Gespräch miteinander gesucht werden.

Dem sollte ein Symposiums im April im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu Problemen der interkulturellen Kommunikation in der Kunsttheorie und Ausstellungspraxis dienen (siehe nbk 3/95, S. 87/88), das der Ausgangspunkt des vorliegenden Heftes ist. Hier werden einige der wichtigsten Wortmeldungen, zumeist in stark überarbeiteter Fassung, und weitere Essays und Statements zu historischen, theoretischen, praktischen und persönlichen Aspekten des Interkulturellen veröffentlicht.

Als anregend für die Auseinandersetzung mit der historischen Dimension des Themas erwies sich der Titel "Das Marco Polo Syndrom", obschon sich die meisten kaum etwas Konkretes darunter vorstellen konnten. Mosquera, der ihn einer Installation seines Landsmannes Flavio Garciandía entlehnte, meinte damit bestimmte Schwierigkeiten bei der Rezeption fremder Kulturen. In dem Venezianer sieht er zwar einen "Pionier im Versuch den Anderen zu begreifen. Aber seine Möglichkeit, eine Brücke zu schlagen, ging durch das Mißtrauen verloren, das er auf beiden Seiten, besonders bei sich selbst, hervorrief". [2] Auf einen weiteren Gesichtspunkt des "Syndroms" wird in diesem Heft eingegangen: mit den Reiseberichten des Marco Polo zog die exotistische Schilderung des "anderen" erstmals in Europa größere Kreise, etablierte sich ein von der Projektion des Eigenen geprägter Blick auf fremde Kulturen. Und bei allen ehrenwerten Motiven ist die präkoloniale Gestalt in gewisser Weise auch ein Wegbereiter des Kolonialismus. Die phantastisch anmutenden Erzählungen und mitgebrachten Geschenke und Waren der Polos weckten Begierden, die zu einem wesentlichen Antrieb der späteren kolonialen Expansion wurden. Das belegen z.B. die ausführlichen handschriftlichen Anmerkungen Kolumbus´ in einer Ausgabe der Berichte des Marco Polo von 1485.

Die Schatten der kolonialen Vergangenheit reichen bis in die Gegenwart. Selbst die heutige interkulturelle Debatte ist noch von der globalstrategischen Logik einer Geographie der Räume und Einflußsphären durchdrungen. Auch wenn die Begriffe Westen und Süden oder Zentrum und Peripherie in Anführungszeichen und damit in Frage gestellt werden, setzt sich damit - zumindest unterschwellig - ein bipolares Verständnis fort, das die Diskussionen immer wieder in einer Sackgasse enden läßt. Deshalb sind die Beiträge zu unserem Thema, in denen das die koloniale Praxis legitimierende und aus ihr hervorgehende Denken in kultur- und geistesgeschichtlichen Zusammenhängen analysiert wird, mehr als nur historische Exkurse. Sie lassen erkennen, wie notwendig die u.a. von Edward W. Saïd proklamierte Entkolonialisierung des Geistes ist, zu dessen Buch "Kultur und Imperialismus" hier einige aufschlußreiche Notizen von Karlheinz Barck zu lesen sind.

Was immer darunter zu verstehen sein mag, wer dem Mosaik der Texte in diesem Heft folgt, wird Ausgangspunkte und Ansätze einer Neuorientierung versammelt finden. Die Demontage des Arsenals einer offensichtlich mißverständlichen Terminologie ist dabei keineswegs eine akademische Übung. In der Auseinandersetzung mit Begriffen, wie primitiv, modern, authentisch, exotisch, entwickelt, universal, regional, fremd, eigen, westlich, nichtwestlich, Identität, etc., zeigt sich, wie bestimmte Vorstellungen davon nicht nur die Kunstanschauung, sondern auch die institutionelle Praxis determinieren. Das wird im Ausstellungsgeschehen, mit dem sich mehrere Autoren befassen, im Wortsinne augenfällig. In diesem Zusammenhang tauchen Fragen auf, die auch hier niemand so recht zu beantworten weiß. Zum Beispiel: Kann außereuropäische Kunst in den westlichen Industrienationen adäquat präsentiert werden und inwieweit kommt es dabei zu einer unzulässigen Repräsentation fremder Kultur? Was ist mit "Kontextualisierung" (oder der beschworenen Gefahr der "De-Kontextualisierung") konkret gemeint? Wie sollte bzw. könnte diese in einer Kunstausstellung überhaupt realisiert werden? Warum wird sie nur verlangt, wenn es um die vermeintliche "Kunst des Südens" geht?

Bei allen erhellenden Argumentationen und Schlußfolgerungen widerspiegeln die Beiträge zu diesem Heft unweigerlich auch einige Probleme des gegenwärtigen interkulturellen Diskurses. Im Grunde herrscht trotz aller Divergenzen in Detailfragen so große Einigkeit, daß man eine von "cultural correctness" geleitete Begegnungskonvention vermuten könnte. Man wünscht sich im Sinne der Sache, um die es hierbei geht, daß Konflikte deutlicher auf den Punkt gebracht und konstruktiv ausgetragen werden. Auf den offenkundigen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis braucht wohl nicht erst hingewiesen zu werden. Es steht die Frage im Raum, ob es gelingen kann, auch noch so plausible Konzepte gegen gewichtige Machtinteressen, persönliche Egoismen oder einfach nur die Irrationalität von Marktmechanismen durchzusetzen.

Anmerkungen:

1. G. Mosquera, Das Marco Polo Syndrom, in: Havanna / São Paulo. Junge Kunst aus Lateinamerika, Berlin, Haus der Kulturen der Welt, 1995, S. 36

2. Ebenda

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Gerhard Haupt
Kunsthistoriker, Kurator, Kritiker. Seit 1997 zusammen mit Pat Binder Herausgeber von Universes in Universe.
Siehe Biographie.

Bernd M. Scherer
1994 bis 1999 Leiter der Abt. Literatur, Wissenschaft und Gesellschaft am Haus der Kulturen der Welt. Seit 2006 Intendant des HKW.

 

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