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Das größere Interesse der Zentren für die Kunst der Peripherien
ist eine Folge der demographischen Prozesse, der Globalisierung und der
Dekolonisation. Die globale Welt ist paradoxerweise auch die Welt des
Unterschieds. Dieser ist dank der Kommunikationsmittel international sichtbarer
geworden und hat sich gleichzeitig innerhalb der Zentren selbst weiter
ausgebreitet. Außerdem hat die Dekolonisation eine größere
und aktivere Intervention von vormals völlig marginalisierten Stimmen
erlaubt. Der Aufbruch der Dritten Welt seit dem Ende der fünfziger
Jahre scheiterte auf fast allen Gebieten: ökonomisch, politisch,
sozial... Aber im Zuge der globalen "Verwestlichung" fand allenthalben
eine kulturelle "Verdrittweltlichung" statt. Der Ausbreitungsgrad
dieser "Verwestlichung" geht mit ihrer eigenen Abschwächung
einher, denn sie ist mit einer Anpassung verbunden. Die Machtstrategie
besteht heutzutage nicht darin, die Verschiedenartigkeit zu unterdrücken
und zu homogenisieren, sondern sie zu kontrollieren.
Die Kultur ist nach dem kalten Krieg ein Spannungsfeld, auf dem ein Kräftemessen
zwischen hegemonialen und subalternen sozialen Kräften stattfindet.
Die ethnokulturelle Debatte wurde zum politischen Raum von Machtkämpfen,
sowohl im Symbolischen wie im Sozialen. Sie werden unter anderem durch
Assimilierung, Quotenregelungen, die Neuartikulation von Hegemonieansprüchen,
die Affirmation des Unterschieds und die Kritik an der Macht ausgetragen.
Wenngleich die Bekräftigung des Pluralismus ein Wesenszug der Postmodernität
ist, bleibt die implizite Dezentralisierung doch unter der Kontrolle der
Zentren, die sich in einer lampedussianischen Strategie des sich Wandelns,
damit alles beim Alten bleibt, selbst "dezentrieren". Aber gleichzeitig
bieten sie dadurch eine offene Flanke dar, die von den Peripherien ausgenutzt
wird. Dabei gibt es den Aspekt der Peripherien, die selbst Druck ausüben,
und einen anderen, der mit der neuen wirtschaftlichen Expansion der Zentren
zu tun hat.
Die fortschreitende Globalisierung des europäischen Industriekapitalismus
seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit ihrer kolonialen und neokolonialen
Vorgehensweise hat die westliche Kultur bis heute zur Metakultur der Modernität
und zum Maßstab für die ausschlaggebenden Institutionen und
Funktionen des zeitgenössischen Lebens erhoben. Aber jeder Prozeß
der Homogenisierung im großen Rahmen bringt, selbst wenn er die
Einebnung von Unterschieden erreicht, andere, neue Prozesse in sich selbst
hervor, so wie ein Latein, das zu romanischen Sprachen zersplittert. Man
sieht das sowohl in der Adaption der dominanten Kultur in den Peripherien
als auch in der Heterogenisierung, welche die Immigranten in den heutigen
Megalopolen bewirken. Es gibt viele und sehr unterschiedliche Leute, die
die westliche Metakultur "unkorrekt" und zwanglos auf ihre eigene
Weise gestalten, wobei sie in vielfältiger Form de-eurozentralisiert
wird. Was wir Postmodernität nennen, ist ein Ergebnis der Überlappung
all dieser widersprüchlichen Prozesse.
Aber wir können uns die Globalisierung nicht einfach als eine überterritoriale
Sphäre von Kontakten in alle Richtungen vorstellen. Sie besteht nicht
in einer effektiven Verknüpfung des gesamten Planeten vermittels
eines Netzes von Kommunikation und Austausch. Es handelt sich vielmehr
um ein radiales System, das sich von den verschiedensten und unterschiedlich
großen Machtzentren hin zu ihren zahlreichen und höchst mannigfaltigen
Wirtschaftszonen erstreckt. Dieses Netz ist über Nord-Süd-Achsen
gezogen. In der Peripherie ist die Globalisierung wenig vorangekommen,
weil sie sich ausgehend von den Zentren und für die Zentren vollzieht.
Eine solche Struktur impliziert die Existenz großer Zonen des Schweigens,
die miteinander gar nicht oder nur über die Neumetropolen verbunden
sind. Diese Gliederung der Welt in radiale Zentren und "unplugged"-Gebiete
verursacht starke Strömungen auf der Suche nach Anschluß. Der
globale Raum erzeugt strukturell die Diaspora. Der inhärente Widerspruch
reproduziert sich in den Gegensätzen zwischen den Zentren und den
Immigranten: man fürchtet und braucht sie zugleich.
Inmitten all dieser komplexen Konfrontationen definiert sich der Gebrauch
des Konzeptes "Kunst des Südens". Natürlich hat er
mehr mit einer Geographie der Macht als mit der physischen Geographie
zu tun. Das Konzept selbst ist die Achse der Debatten und kulturellen
Verhandlungen, auf die ich mich bezogen habe. Es kann als Ghetto aufgefaßt
sein, als Markierung im System multikultureller Quoten und der cultural
correctness oder noch immer als Raum für einen neuen Exotismus. Aber
es kann auch als eine Idee der Solidarität zwischen den Ausgeschlossenen
in ihrer Kritik und Aktion gegenüber der Macht funktionieren.
Es ist offenkundig, daß dieses Konzept keine allgemeine kulturelle
Identität und noch viel weniger eine spezifische Art, Kunst zu machen,
bedeutet. Aber es schließt sehr wohl Ähnlichkeiten hinsichtlich
der postkolonialen Situation, der subalternen Lage, gewisser Werte und
vor allem die Gemeinsamkeit von strategischen Interessen gegenüber
dem "Norden" ein. Es ist keine Synthese, sondern ein Mosaik.
Bedauerlicherweise haben die Länder und Kulturen der Dritten Welt
ihre Verbundenheit in einem solchen Mosaik, die auf dem basiert, was sie
über ihre vielen Unterschiede hinweg vereint, auch wenn das nur die
Armut wäre, nur sehr begrenzt artikulieren können.
Die "kultivierte" Kunst der Dritten Welt ist nicht das Ergebnis
der Evolution der vorkolonialen Kulturen, deren Weg durch den Kolonialismus
dramatisch modifiziert wurde. Als zeitgenössische Kunst ist sie Teil
der Generalisierung des westlichen Konzepts und der Ausübung der
Kunst als sich selbst genügender Aktivität, die auf der "nicht
zweckbestimmten" Kontemplation beruht und auf die Hervorbringung
von sehr spezialisierten ästhetisch-symbolischen Botschaften gerichtet
ist. Deshalb ist sie ein koloniales Produkt. Aber, wie ich vor kurzem
Jimmie Durham sagen hörte, gibt es überhaupt irgendeine zeitgenössische
Erfahrung, die das nicht ist? Auch die westliche Kunst ist ein koloniales
Produkt, nur eben von der anderen Seite her. Die historischen Prozesse,
auf die ich mich bezogen habe, betreffen uns alle.
Ich denke, es ist nicht plausibel, einen Unterschied per se in der Kunst
der Dritten Welt gegenüber anderen kontemporären Praktiken zu
suchen. Die Unterschiede würden aus dem Gebrauch herrühren,
den jeder Autor, jede Bewegung oder Kultur von der Kunst machen, der bedingt
sein kann durch Weltanschauung, Werte, Strategien, Interessen, kulturelle
Vorbilder, Themen oder eigene Techniken.
In den Zentren existiert eine gewisse Tendenz, diese Kunst mit dem Verdacht
der Illegitimität zu betrachten. Oft werden die Werke gar nicht angesehen:
man bittet um die Pässe, und diese sind für gewöhnlich
nicht in Ordnung, denn sie entsprechen Prozessen der Hybridisierung, Aneignung,
neuen Sinngebung, Neologismen und Erfindungen als Antwort auf die heutige
Situation. Man fordert von dieser Kunst eine Originalität, die mit
den traditionellen Kulturen zu tun hat (welche diesen Namen auf Grund
der von der kolonialen Modernisierung aufgezwungenen Marginalisierung
tragen), das heißt, die auf die Vergangenheit gerichtet ist, oder
die ad ovo als eine völlige neue, gegenwärtige Erfindung akzeptiert
werden kann. In beiden Fälle fordert man von ihr, den Kontext zu
deklarieren und nicht an einer allgemeinen Kunstpraxis teilzuhaben, die
sich gelegentlich nur auf die Kunst selbst beziehen könnte. In diesem
Sinne ist der Begriff "Authentizität" mit einer Reinheit
der Wurzeln in Zusammenhang gebracht worden, um die postkoloniale Kultur
abzuqualifizieren, indem man ihr vorwirft, ein Derivat des Westens zu
sein. Dieser Gebrauch ist noch problematischer in einer Epoche, in der
komplexe Wiederanpassungen der Identitäten stattfinden: multiple
Identitäten, Identitäten in Form chinesischer Kästen oder
Matrjoschkas, Neoidentitäten, Mischungen der Identitäten, Verschiebungen
zwischen ihnen, "ethnische Spiele"...
Das Syndrom bleibt so verwurzelt, daß es postmoderne Manifestationen
aufweist. Das neue Interesse der Zentren an der Alterität hat eine
größere Zirkulation und Legitimation der Kunst der Peripherien
erlaubt. Aber allzuhäufig hat man einzig die Kunst wertgeschätzt,
die explizit als anders auftritt oder die am besten die Erwartungen des
postmodernen Exotismus hinsichtlich des "Andersseins" erfüllt.
Die "Fridamanie" (die Leidenschaft für Frida Kahlo) in
den Vereinigten Staaten ist ein offenkundiges Beispiel dafür. Diese
Haltung hat die Selbstdarstellung der Peripherien als "Andere"
stimuliert, wo sich einige Künstler - bewußt oder unbewußt
- einem paradoxen Autoexotismus zuwandten.
Die Peripherien übernahmen den Modernismus von Europa, aber fast
immer haben sie ihn als Mittel und nicht als Ziel benutzt. Der Modernismus
wurde zu einer eigenen Agenda umfunktioniert, die auf die Ausformung von
Identitäten und die soziale und kulturelle Kritik konzentriert ist.
In diesem Sinne und im Hinblick auf die Verhandlung der Heterogenität
unserer Gesellschaften stellte sich seine Rolle in Lateinamerika als bedeutsam
heraus. Der lateinamerikanische Modernismus nahm die Volkskultur und die
Widersprüche einer fragmentarischen Modernität in sich auf.
Wifredo Lam war z.B. der erste bildende Künstler, der versuchte,
sich den Modernismus als einen Raum für die Hervorhebung und Vermittlung
afroamerikanischer Sinngehalte zunutze zu machen.
Außer die eigene Aufgabenstellung zu erledigen, bedeutete die Aneignung
des Modernismus in der Peripherie eine Pluralisierung und komplexere Anreicherung
des Modernismus selbst. Das Saxophon kann als Metapher dafür gelten.
Es handelt sich dabei um das moderne Instrument schlechthin, das im Laboratorium
für das Sinfonieorchester entwickelt und auf den großen Industriemessen
der triumphierenden Modernitität ausgestellt wurde. Seine Bestimmung
hat es aber nur im Jazz gefunden, als unerwartetes und paradigmatisches
Vehikel einer afrikanisch-nordamerikanischen Sensibilität.
Die Ausweitung der künstlerischen Praxis in der Dritten Welt durchbricht
nicht nur den westlichen Monismus, sie kann auch strukturelle Veränderungen
mit sich bringen. Ein bemerkenswerter Fall ist die sogenannte neue kubanische
Kunst. Dank der allgemeinen Verbreitung des kostenlosen künstlerischen
Unterrichts und der gesellschaftlichen Dynamik des Landes sind junge Leute
aus allen sozialen Gruppen zu "kultivierten" Künstlern
ausgebildet worden und haben dabei zugleich den Kontakt zu ihrem ursprünglichen
Umfeld aufrechterhalten. In ihren Werken entsteht eine Kunst der Avantgarde
vom Volkstümlichen her. Zu den Gepflogenheiten ihrer Herkunft gehört
es nicht, am "Kultivierten" teilzunehmen, sondern dieses auf
eine qualitativ andere Art selbst zu machen. Es bricht aus den Künstlern
hervor, die ihr Werk ausgehend von den afrokubanischen Kosmovisionen ihres
familiären Kontextes, deren aktive Träger sie sind, strukturieren.
Dieses Phänomen schließt eine Veränderung des Sinngehalts
ein. José Bedia würde zum Beispiel postmoderne Kongo-Kunst
machen.
Die in diesen Anmerkungen skizzierte Situation macht die Notwendigkeit
deutlich, das System der Zirkulation von Ausstellungen zu verändern,
was eine aktive Beteiligung der Peripherien an der Vermittlung ihrer eigenen
Kunst bedeutet, und zwar gegen den dominanten Zentralismus. Das würde
die Süd-Nord-Bewegungen ebenso wie die zwischen dem Süden selbst
einschließen, indem Kreisläufe des Austauschs und der Legitimation
in den Peripherien etabliert werden. Diese Pluralisierung würde nicht
nur dem "Süden" nützen; sie würde für alle
Seiten eine Bereicherung bedeuten. Aber ohnehin erreicht das, was wir
die internationale Zirkulation der Kunst nennen, nur einen kleinen Teil
der Weltbevölkerung. Es ist notwendig, dem Problem des nicht beachteten
Publikums, das die Mehrheit der Menschheit ausmacht, Aufmerksamkeit zu
widmen. Die schwierigen Schritte in diese Richtung werden Veränderungen
in den gegenwärtigen Formen der Zirkulation der Kunst und in der
Kunst selbst mit sich bringen, wenn sie auf eine breitere und aktivere
Beteiligung der Gesellschaftsgruppen, auf Verknüpfungen mit der Erziehung,
die Wechselbeziehung mit der einheimischen Kultur, den Gebrauch der Massenmedien
etc. gerichtet sind. Vielleicht ist es utopisch, das in Angriff nehmen
zu wollen. Aber zumindest sollte man wissen, wo das Problem liegt.
© Übersetzung aus dem Spanischen: Gerhard Haupt
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Gerardo Mosquera
* 1945 Havanna, Kuba; lebt dort. Kritiker, Kurator, Autor. Beigeordneter Kurator des New Museum of Contemporary Art, New York; Berater der Rijksakademie van Beeldenden Kunsten, Amsterdam.
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