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Hans Belting hat in seinem Vortrag zum Marco-Polo-Syndrom über Konfusion
gesprochen, über Verwirrung, die sich beim Besuch der Ausstellung
lateinamerikanischer Kunst eingestellt habe, nachdem er mit einem Kurator
des "Hauses der Kulturen der Welt" (Berlin) gesprochen hatte.
Möglicherweise hatte seine Unsicherheit mit der Auswahl zu tun, die
er in dieser Ausstellung zum Symposium vorfand. Und vielleicht hätten
wir etwas mehr auf den Kontext dieser Ausstellung achten sollen. Denn
sie ist einer sehr speziellen Konstellation zu verdanken, weil sie aus
Teilen von Teilen von Teilen der Havanna-Biennale zusammengebaut worden
ist.
Verstörung und Unbehagen, die Hans Belting vor den kubanischen und
brasilianischen Werken empfand, sind andererseits Gefühle, die uns
heute in vielen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst bewegen. Mir
scheint, Hans Belting hätte den denselben Eindruck auch bei der "Aperto"-Ausstellung
der vorigen Biennale in Venedig (1993) bekommen können. Und ich glaube,
daß das mit der Krise der Präsentation von Kunst, der Repräsentation
durch Kunst und mit der Krise der Modelle, die wir dafür favorisieren,
zu tun hat. Es hat mit der extremen Heterogenität der zeitgenössischen
Kunstformen und -praktiken zu tun. Wir könnten endlos die verwirrenden
Formen, Gedanken, Haltungen, Materialien aufzählen, die sich durch
ein Kunstwerk artikulieren. Das trifft auf alle bedeutenden und erregenden
Werke zu, welchem kulturellen Zusammenhang auch immer diese entspringen.
Die zeitgenössische Ästhetik und die Künstler beschäftigen
sich mit sehr komplexen Themen, mit physischen, geographischen und auch
mentalen und ideologischen Zuständen. Sie rücken die Kunst in
ein, wie ich es nennen würde, "erweitertes Feld" der Kultur,
in einen Raum, der bis vor kurzem ausschließlich der Anthropologie
gehörte. Dieser Raum ist nicht leicht zu ermessen, zu klassifizieren
und zu begrenzen. Wenn wir also die Grenzen zwischen dem sogenannten Norden
und dem sogenannten Süden demonstrativ bewahren - oder, schlimmer
noch: wiedererrichten -, dann entfliehen wir gleichzeitig aus dem, was
das eigentlich Interessante der heutigen Kunst ausmacht: Wir flüchten
aus dem Kontext der Werke. Die Gestaltung des Kontextes ist die einzige
Alternative zur längst schwierig gewordenen Behauptung von Kriterien.
Kontextualisierung jedoch hat mit der Darstellung von Gegensätzen,
mit der Anerkennung von Konflikten und mit den notwendigen Debatten zu
tun.
Als Gerardo Mosquera seine Erfahrungen mit der Biennale in Kuba erwähnte
und sagte, daß er versucht habe, der Debatte den Vorrang zu geben
gegenüber dem Objekt, dem Gegenstand oder der klassischen, gutgemachten,
sauberen, klaren Ausstellung, hat er diese neue Haltung ins Spiel gebracht.
Dabei nahm er Bezug auf das historische Modell des Museums von Alexandria.
Das war kein Museum von Gegenständen und für Gegenstände,
sondern eine Bibliothek, ein Raum, in dem Menschen sich trafen, um über
Ideen zu diskutieren und nachzudenken, nicht um Dinge an die Wand zu hängen.
Dieses Modell ist auch eine Aufgabe gegenwärtiger "Ereignisse".
Denn in verschiedener Hinsicht ist es heute sicher klüger und einleuchtender,
von "kulturellen Ereignissen" zu sprechen, statt von Ausstellungen.
Wenn man sich beispielsweise die vergangenen Documenta-Ausstellungen ansieht
und die Kataloge sorgsam studiert, kann man feststellen, daß es
sehr interessante Performances und Filmprogramme gab, viele lebendige
Ereignisse, die allerdings nicht wirklich wahrgenommen worden sind, gerade
weil die Logistik der Documenta auf das Ausstellen bezogen war. Natürlich
hat Sichtbarkeit zunächst mit den Augen jedes einzelnen zu tun, aber
Sichtbarkeit hat auch mit physischen und ideologischen Räumen zu
tun. Und wenn diese Räume nicht begrenzt werden, hat man viele Gründe,
nicht das zu sehen, was eigentlich gesehen werden soll. Eine andere Vorstellung
von Kunstpräsentation, die Idee zur Schaffung eines Kontextes, selbst
wenn dieser nur ein kurzzeitiger und ein sehr polemischer ist, zielt auf
die genannte extreme Komplexität der "ästhetischen Phänomene"
und die schwierige Entwicklung eines Zusammenhanges zwischen dem Lokalen
und dem Globalen und zwischen Einheit und Diversität.
Ich möchte deshalb den französischen Anthropologen Max Auger
zitieren, der klarstellte, daß die Welt zwar immer einheitlicher
und von einem globalisierenden politischen und ökonomischen System
bestimmt wird, daß diese Entwicklung aber auch die Widerstandsmöglichkeiten
innerhalb der Vielfalt der menschlichen Gemeinschaften unterstreicht.
Mit dieser Bemerkung wird deutlicher, was ich undurchsichtige Räume,
die Räume des Widerstands, die Strategie der Distanz nennen würde.
System und Widerstand befinden sich in einer sehr fragilen, manchmal chaotischen
und gelegentlich auch sehr gefährlichen Balance, aber immerhin sind
sie noch in Balance. Diese heikle Balance ist eine Tatsache, mit der jeder
konfrontiert ist, wenn er sich mit zeitgenössischer Kultur und Kunst
befaßt.
Sehr oft höre ich die Leute über eine "Identitätskrise"
reden, als ob die Identität etwas "Dinghaftes" wäre,
als ob sie ein Paket oder eine Sammlung von Dingen wäre, etwas, das
einem von vornherein geschenkt geworden wäre: Man ist "schwarz",
"schwul", "bisexuell" usw. Die Identität aber
ist keine Ansammlung von Gegebenheiten (sozialen, rassischen, sexuellen,
politischen, ökonomischen), sie ist ein lebenslanger Prozeß;
sie hat zwar mit sozialen, psychologischen, politischen Realitäten
zu tun, aber auch mit Träumen, Mißerfolgen, Ambitionen, Unwägbarkeiten
und Irrationalem. Wenn von einer Identitätskrise die Rede ist, geht
es um eine Krise der Alterität, womit die Unfähigkeit und die
Angst gemeint ist, das Andere zu denken und zu repräsentieren.
Wenn man aber Fragen über die Identität stellt, wenn man dann
entsprechend versucht, diese mit zeitgenössischer Ästhetik zu
konfrontieren, verschiebt, dekonstruiert man offensichtlich das alte Schema
Zentrum - Peripherie, Nord - Süd. Und wenn die Leute mich fragen,
ob ich einen Afrikaner oder zwei Chinesen zur nächsten Documenta
einladen werde, fühle ich mehr und mehr, daß wir weit entfernt
von der eigentlichen Frage sind: Wann, wo, wie, und unter welchen Bedingungen
existiert die Kunst noch als ein exklusives Erlebnis, als ein empfindliches,
kognitives, ästhetisches und auch ethisches Ereignis innerhalb einer
Welt, die von den Massenmedien und den auferlegten oder freiwillig angenommen
Kräften und Werten beherrscht wird? Das hat wiederum mit Fragen nach
dem Sichtbaren und noch viel mehr mit den Kontexten zu tun und eben weniger
mit den Objekten.
So gesehen ist heutzutage eine neue "exposition universelle"
ein gefährliches Ausstellungsmodell. Ich war ein wenig überrascht,
daß niemand den Namen von Edward Saïd erwähnte, denn selbst
wenn man mit einigen seiner Positionen nicht einverstanden ist, ist die
Dekonstruktion, die er für den Orientalismus versuchte, ein interessantes
theoretisches und kulturelles Verfahren. Die Art und Weise, in der er
nicht nur den Orientalismus, sondern grundsätzlich die Auffassung
vom "Süden" oder von der Peripherie als eine reine Konstruktionen
von Ideologien enthüllt, sind sehr aufschlußreich. Es ist an
der Zeit zu begreifen, daß es nichts außer Modernität
gibt, also keine einfachen Gegensätze zwischen Zentrum und Peripherie,
Moderne und Prämoderne. Moderne Kulturmodelle sind natürlich
durch eine politische und ökonomische Herrschaft eingesetzt, sie
sind kolonial, imperialistisch, neokolonial usw., und sie haben sehr komplizierte
kulturelle Konstruktionen und Reaktionen hervorgerufen. Und fraglos hat
die gewalttätige Konfrontation verschiedener Systeme eine Menge Leid
und Konflikte, viele endgültige Verluste und Zerstörungen hervorgerufen,
aber ebenso sind neue kulturelle Konstruktionen entstanden. Wir sollten
diese, sagen wir "dunklen Perioden" nicht als ein historisches
Loch, als bloße Leere betrachten, sondern auch als einen Moment
sehr weiterwirkender kultureller Vorschläge. Mit anderen Worten,
wir sollten bedenken, daß es in dem Haus der Modernität viele
Räume gibt, und daß Modernität eine Ansammlung vieler
verschiedener Prozesse kultureller Konstruktion ist und viel mehr, als
ein einfaches Pingpong zwischen Paris, New York, Berlin, Moskau, Wien...
Ich will sehr schnell einige Beispiele nennen. Brasilianischer Modernismus
ist ein sehr interessanter Raum im Haus der Moderne, wenn Sie daran denken,
was die anthropologische Bewegung von kultureller Konstruktion hielt,
wenn Sie daran denken, was im Sinne von Dynamik, Innovation, des Findens
eines Identitätsprozesses, der das Gegenteil von Ausschluß
bedeutet, ein einzigartiges Modell kultureller Verschmelzung - eines wirklichen
Schmelztiegels - damit gemeint ist. Auf einer anderen Ebene, um fruchtlose
Debatten über Originale und Kopien, über sogenannte zentrale
und periphere Modernität zu vermeiden, scheint es sehr wichtig zu
sein, wie wir es mit der Ausstellung von Helio Oticica im Jeu de Paume
versuchten, die spezifische Artikulation geometrischer Modelle mit dem
physischen und sozialen Körper in der modernen brasilianischen Tradition
aufzuzeigen. Ich denke, das ist ein Beispiel dafür, was ein anderes
Sicht über die Moderne, was eine andere Auffassung von Modernismus
in die Debatte einbringen kann.
Ich denke, wenn Sie diese historische Perspektive nehmen, werden Sie
sich des sehr komplexen Prozesses von Austausch und gegenseitiger formaler
Vermischung und Verschiebung in der Kunst seit dem Beginn des Jahrhunderts
viel bewußter sein. Ich will erneut Saïd zitieren: "Ich
möchte erwähnen, daß viele der herausragendsten Charakteristika
der Kultur der Moderne / des Modernismus, die wir für gewöhnlich
allein aus der inneren Dynamik der westlichen Gesellschaft und Kultur
ableiten, tatsächlich eine Antwort auf den äußeren Druck
des Imperiums auf die Kultur enthalten."
Das ist sehr wichtig, denn es bringt uns zurück zu dieser sehr einfachen
aber sehr grundlegenden Erkenntnis, daß Kultur und Identität
immer eine Konstruktion waren und sind, und daß ist der Grund, weshalb
es mich nervös macht, wenn ich in einigen Ausstellungen und Artikeln
eine Neigung sehe, Kulturen noch mal mit einem Wesen zu versehen. Ich
sah die "Schwarze Männer" Ausstellung in New York als ein
Bemühen, kann sein aus sozialer und politischer Not, schwarze Kultur
ebenso zu verwesentlichen, und ich denke, es ist sehr begrenzt und gefährlich.
Nun können Sie natürlich sagen, es ist ein schönes Programm,
aber wie soll man es umsetzen? Und erneut denke ich, es hat mit Methodologie
und vielleicht auch mit Ausstellungsmodellen zu tun. Ich glaube auch,
daß eine sehr sorgsame Gestaltung eine gute Alternative zur wachsenden
Gefahr ist, die in der Instrumentalisierung von Kunst für direkte
politische und soziale Belange liegt. Kunst ist keine Pomade für
feinen Leute, sie druückt verschiedene Stufen von Wissen und Erfahrungen
aus.
Abschließend soll ein mögliches Modell erwähnt sein,
das der Intention Jean-Luc Godards folgt, und seiner sehr besonderen
Weise, über und von "Ici et ailleurs", von hier und dort,
vom Objektivieren der Bedingungen, der Produktion, von Werken oder Ausstellungen,
die darin besteht, deutlich zu machen, wo man ist, was man tut und wie
man es tut.
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Catherine David
* 1954 Paris, Frankreich.
Künstlerische Leiterin der documenta X in Kassel 1997.
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