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Magazin / Das Marco Polo Syndrom

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Undurchsichtige Räume
oder die Prozesse kultureller Konstruktion
Von Catherine David

 

 

Hans Belting hat in seinem Vortrag zum Marco-Polo-Syndrom über Konfusion gesprochen, über Verwirrung, die sich beim Besuch der Ausstellung lateinamerikanischer Kunst eingestellt habe, nachdem er mit einem Kurator des "Hauses der Kulturen der Welt" (Berlin) gesprochen hatte. Möglicherweise hatte seine Unsicherheit mit der Auswahl zu tun, die er in dieser Ausstellung zum Symposium vorfand. Und vielleicht hätten wir etwas mehr auf den Kontext dieser Ausstellung achten sollen. Denn sie ist einer sehr speziellen Konstellation zu verdanken, weil sie aus Teilen von Teilen von Teilen der Havanna-Biennale zusammengebaut worden ist.

Verstörung und Unbehagen, die Hans Belting vor den kubanischen und brasilianischen Werken empfand, sind andererseits Gefühle, die uns heute in vielen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst bewegen. Mir scheint, Hans Belting hätte den denselben Eindruck auch bei der "Aperto"-Ausstellung der vorigen Biennale in Venedig (1993) bekommen können. Und ich glaube, daß das mit der Krise der Präsentation von Kunst, der Repräsentation durch Kunst und mit der Krise der Modelle, die wir dafür favorisieren, zu tun hat. Es hat mit der extremen Heterogenität der zeitgenössischen Kunstformen und -praktiken zu tun. Wir könnten endlos die verwirrenden Formen, Gedanken, Haltungen, Materialien aufzählen, die sich durch ein Kunstwerk artikulieren. Das trifft auf alle bedeutenden und erregenden Werke zu, welchem kulturellen Zusammenhang auch immer diese entspringen. Die zeitgenössische Ästhetik und die Künstler beschäftigen sich mit sehr komplexen Themen, mit physischen, geographischen und auch mentalen und ideologischen Zuständen. Sie rücken die Kunst in ein, wie ich es nennen würde, "erweitertes Feld" der Kultur, in einen Raum, der bis vor kurzem ausschließlich der Anthropologie gehörte. Dieser Raum ist nicht leicht zu ermessen, zu klassifizieren und zu begrenzen. Wenn wir also die Grenzen zwischen dem sogenannten Norden und dem sogenannten Süden demonstrativ bewahren - oder, schlimmer noch: wiedererrichten -, dann entfliehen wir gleichzeitig aus dem, was das eigentlich Interessante der heutigen Kunst ausmacht: Wir flüchten aus dem Kontext der Werke. Die Gestaltung des Kontextes ist die einzige Alternative zur längst schwierig gewordenen Behauptung von Kriterien. Kontextualisierung jedoch hat mit der Darstellung von Gegensätzen, mit der Anerkennung von Konflikten und mit den notwendigen Debatten zu tun.

Als Gerardo Mosquera seine Erfahrungen mit der Biennale in Kuba erwähnte und sagte, daß er versucht habe, der Debatte den Vorrang zu geben gegenüber dem Objekt, dem Gegenstand oder der klassischen, gutgemachten, sauberen, klaren Ausstellung, hat er diese neue Haltung ins Spiel gebracht. Dabei nahm er Bezug auf das historische Modell des Museums von Alexandria. Das war kein Museum von Gegenständen und für Gegenstände, sondern eine Bibliothek, ein Raum, in dem Menschen sich trafen, um über Ideen zu diskutieren und nachzudenken, nicht um Dinge an die Wand zu hängen. Dieses Modell ist auch eine Aufgabe gegenwärtiger "Ereignisse". Denn in verschiedener Hinsicht ist es heute sicher klüger und einleuchtender, von "kulturellen Ereignissen" zu sprechen, statt von Ausstellungen. Wenn man sich beispielsweise die vergangenen Documenta-Ausstellungen ansieht und die Kataloge sorgsam studiert, kann man feststellen, daß es sehr interessante Performances und Filmprogramme gab, viele lebendige Ereignisse, die allerdings nicht wirklich wahrgenommen worden sind, gerade weil die Logistik der Documenta auf das Ausstellen bezogen war. Natürlich hat Sichtbarkeit zunächst mit den Augen jedes einzelnen zu tun, aber Sichtbarkeit hat auch mit physischen und ideologischen Räumen zu tun. Und wenn diese Räume nicht begrenzt werden, hat man viele Gründe, nicht das zu sehen, was eigentlich gesehen werden soll. Eine andere Vorstellung von Kunstpräsentation, die Idee zur Schaffung eines Kontextes, selbst wenn dieser nur ein kurzzeitiger und ein sehr polemischer ist, zielt auf die genannte extreme Komplexität der "ästhetischen Phänomene" und die schwierige Entwicklung eines Zusammenhanges zwischen dem Lokalen und dem Globalen und zwischen Einheit und Diversität.

Ich möchte deshalb den französischen Anthropologen Max Auger zitieren, der klarstellte, daß die Welt zwar immer einheitlicher und von einem globalisierenden politischen und ökonomischen System bestimmt wird, daß diese Entwicklung aber auch die Widerstandsmöglichkeiten innerhalb der Vielfalt der menschlichen Gemeinschaften unterstreicht. Mit dieser Bemerkung wird deutlicher, was ich undurchsichtige Räume, die Räume des Widerstands, die Strategie der Distanz nennen würde. System und Widerstand befinden sich in einer sehr fragilen, manchmal chaotischen und gelegentlich auch sehr gefährlichen Balance, aber immerhin sind sie noch in Balance. Diese heikle Balance ist eine Tatsache, mit der jeder konfrontiert ist, wenn er sich mit zeitgenössischer Kultur und Kunst befaßt.

Sehr oft höre ich die Leute über eine "Identitätskrise" reden, als ob die Identität etwas "Dinghaftes" wäre, als ob sie ein Paket oder eine Sammlung von Dingen wäre, etwas, das einem von vornherein geschenkt geworden wäre: Man ist "schwarz", "schwul", "bisexuell" usw. Die Identität aber ist keine Ansammlung von Gegebenheiten (sozialen, rassischen, sexuellen, politischen, ökonomischen), sie ist ein lebenslanger Prozeß; sie hat zwar mit sozialen, psychologischen, politischen Realitäten zu tun, aber auch mit Träumen, Mißerfolgen, Ambitionen, Unwägbarkeiten und Irrationalem. Wenn von einer Identitätskrise die Rede ist, geht es um eine Krise der Alterität, womit die Unfähigkeit und die Angst gemeint ist, das Andere zu denken und zu repräsentieren.

Wenn man aber Fragen über die Identität stellt, wenn man dann entsprechend versucht, diese mit zeitgenössischer Ästhetik zu konfrontieren, verschiebt, dekonstruiert man offensichtlich das alte Schema Zentrum - Peripherie, Nord - Süd. Und wenn die Leute mich fragen, ob ich einen Afrikaner oder zwei Chinesen zur nächsten Documenta einladen werde, fühle ich mehr und mehr, daß wir weit entfernt von der eigentlichen Frage sind: Wann, wo, wie, und unter welchen Bedingungen existiert die Kunst noch als ein exklusives Erlebnis, als ein empfindliches, kognitives, ästhetisches und auch ethisches Ereignis innerhalb einer Welt, die von den Massenmedien und den auferlegten oder freiwillig angenommen Kräften und Werten beherrscht wird? Das hat wiederum mit Fragen nach dem Sichtbaren und noch viel mehr mit den Kontexten zu tun und eben weniger mit den Objekten.

So gesehen ist heutzutage eine neue "exposition universelle" ein gefährliches Ausstellungsmodell. Ich war ein wenig überrascht, daß niemand den Namen von Edward Saïd erwähnte, denn selbst wenn man mit einigen seiner Positionen nicht einverstanden ist, ist die Dekonstruktion, die er für den Orientalismus versuchte, ein interessantes theoretisches und kulturelles Verfahren. Die Art und Weise, in der er nicht nur den Orientalismus, sondern grundsätzlich die Auffassung vom "Süden" oder von der Peripherie als eine reine Konstruktionen von Ideologien enthüllt, sind sehr aufschlußreich. Es ist an der Zeit zu begreifen, daß es nichts außer Modernität gibt, also keine einfachen Gegensätze zwischen Zentrum und Peripherie, Moderne und Prämoderne. Moderne Kulturmodelle sind natürlich durch eine politische und ökonomische Herrschaft eingesetzt, sie sind kolonial, imperialistisch, neokolonial usw., und sie haben sehr komplizierte kulturelle Konstruktionen und Reaktionen hervorgerufen. Und fraglos hat die gewalttätige Konfrontation verschiedener Systeme eine Menge Leid und Konflikte, viele endgültige Verluste und Zerstörungen hervorgerufen, aber ebenso sind neue kulturelle Konstruktionen entstanden. Wir sollten diese, sagen wir "dunklen Perioden" nicht als ein historisches Loch, als bloße Leere betrachten, sondern auch als einen Moment sehr weiterwirkender kultureller Vorschläge. Mit anderen Worten, wir sollten bedenken, daß es in dem Haus der Modernität viele Räume gibt, und daß Modernität eine Ansammlung vieler verschiedener Prozesse kultureller Konstruktion ist und viel mehr, als ein einfaches Pingpong zwischen Paris, New York, Berlin, Moskau, Wien...

Ich will sehr schnell einige Beispiele nennen. Brasilianischer Modernismus ist ein sehr interessanter Raum im Haus der Moderne, wenn Sie daran denken, was die anthropologische Bewegung von kultureller Konstruktion hielt, wenn Sie daran denken, was im Sinne von Dynamik, Innovation, des Findens eines Identitätsprozesses, der das Gegenteil von Ausschluß bedeutet, ein einzigartiges Modell kultureller Verschmelzung - eines wirklichen Schmelztiegels - damit gemeint ist. Auf einer anderen Ebene, um fruchtlose Debatten über Originale und Kopien, über sogenannte zentrale und periphere Modernität zu vermeiden, scheint es sehr wichtig zu sein, wie wir es mit der Ausstellung von Helio Oticica im Jeu de Paume versuchten, die spezifische Artikulation geometrischer Modelle mit dem physischen und sozialen Körper in der modernen brasilianischen Tradition aufzuzeigen. Ich denke, das ist ein Beispiel dafür, was ein anderes Sicht über die Moderne, was eine andere Auffassung von Modernismus in die Debatte einbringen kann.

Ich denke, wenn Sie diese historische Perspektive nehmen, werden Sie sich des sehr komplexen Prozesses von Austausch und gegenseitiger formaler Vermischung und Verschiebung in der Kunst seit dem Beginn des Jahrhunderts viel bewußter sein. Ich will erneut Saïd zitieren: "Ich möchte erwähnen, daß viele der herausragendsten Charakteristika der Kultur der Moderne / des Modernismus, die wir für gewöhnlich allein aus der inneren Dynamik der westlichen Gesellschaft und Kultur ableiten, tatsächlich eine Antwort auf den äußeren Druck des Imperiums auf die Kultur enthalten."

Das ist sehr wichtig, denn es bringt uns zurück zu dieser sehr einfachen aber sehr grundlegenden Erkenntnis, daß Kultur und Identität immer eine Konstruktion waren und sind, und daß ist der Grund, weshalb es mich nervös macht, wenn ich in einigen Ausstellungen und Artikeln eine Neigung sehe, Kulturen noch mal mit einem Wesen zu versehen. Ich sah die "Schwarze Männer" Ausstellung in New York als ein Bemühen, kann sein aus sozialer und politischer Not, schwarze Kultur ebenso zu verwesentlichen, und ich denke, es ist sehr begrenzt und gefährlich.

Nun können Sie natürlich sagen, es ist ein schönes Programm, aber wie soll man es umsetzen? Und erneut denke ich, es hat mit Methodologie und vielleicht auch mit Ausstellungsmodellen zu tun. Ich glaube auch, daß eine sehr sorgsame Gestaltung eine gute Alternative zur wachsenden Gefahr ist, die in der Instrumentalisierung von Kunst für direkte politische und soziale Belange liegt. Kunst ist keine Pomade für feinen Leute, sie druückt verschiedene Stufen von Wissen und Erfahrungen aus.

Abschließend soll ein mögliches Modell erwähnt sein, das der Intention Jean-Luc Godards folgt, und seiner sehr besonderen Weise, über und von "Ici et ailleurs", von hier und dort, vom Objektivieren der Bedingungen, der Produktion, von Werken oder Ausstellungen, die darin besteht, deutlich zu machen, wo man ist, was man tut und wie man es tut.

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Catherine David
* 1954 Paris, Frankreich. Künstlerische Leiterin der documenta X in Kassel 1997.

 

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