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Die Wahrheit der  Bilder

Urs Jaeggi

“Die Wahrheit in der Kunst” ist ein Satz des Malers Paul Cézanne. Nicht als  endlosen Versuch, die Wahrheit  eindeutig, ein für alle mal zu finden. Er sagt über die Malerei  das, was ihm das Malen gibt, was er dabei empfindet, als Anregung für andere, vor allem  als Anforderung an sich selber. Er will  das  entdecken, was in seinen Bildern steckt, was ihn in der Kunst antreibt und herumtreibt. Der französische Philosophe Jacques Derrida hat um Cézannes Satz herum ein dickes Buch  geschrieben. Nach einer Annäherung an Kant, der vom intresselosen Gefallen ausgeht und die Frage nach dem Wahren in einen “Rahmen” bringt, geht Derriada an die Ränder. Er  schreibe  viermal um die Malerei herum. Ich werde mit der Fotografie das gleiche tun. Fragen.

Wir wissen ungefähr,  was Fotos  können. Sie bilden etwas ab, das wiedererkannt werden kann, und produzieren etwas anderes, schwer Entzifferbares. Man kann bei so einem Versuch, es zu erklären nur scheitern und gleichzeitig gewinnen. Das Abbild ist nie nur Abbild. Auch das Wiedererkennen ist kein einfaches Wiedererkennen. Wenn der Maler oder der Fotograf das Motiv oder die Idee vor sich hat, sozusagen das Bild sieht, obwohl es noch nicht existiert,  muss er das, was er spürt  mit den ihm zur Verfügung stehend technischen Mitteln festhalten. Es herstellen. Der Betrachter wiederum  muss versuchen, es nachzuempfinden, mit seinem Gefühl und seinem Wissen. Die Intuition, auch der Augenblick, entscheiden mit. Das Vorgegebene ist wie in der Musik nur Auslöser, und das Resultat nichts einfach Objektiviertes. Es ist etwas, das packt, fasziniert, etwas, das im Glücksfall weiter geht als das, was was man bisher kennt, oder es verstärkt  bisher Bekanntes.  Das symbolische System, in dem sich Kunst,  und damit auch die Fotografie,  bewegt, ist fragil und zeitabhängig. Wandelbar.  Heutiges wäre vor hundert Jahren nicht verstanden worden, es hätte zu weit vorgegriffen. Für den Künstler ist gerade das noch nicht Fixierte, Neue und Offene, also das Unbekannte, Riskante das Spannende. Die Ästhetik kann interpretierend versuchen, zu erklären, warum etwas so ist, wie man es erklärt.  Es bleiben Meinungen, Thesen, die wahr sein können. Es gibt nichts endgültig  zu belegen oder bewältigen. Es geht auch nicht  um die Fotographie, es geht ums fotographieren. Was geschieht, wenn die Kamera etwas festhält, etwas herstellt, und was geschieht, wenn wir das Hergestellte betrachten.
Wir lügen, sagt der Fotograf.  Niemand manipuliert schamloser als wir. Fotografen, die angeblichen Wirklichkeitsdarsteller, verdeutlichen, indem  sie ein- und  ausgrenzen. Es geht ums Suggestive.  Wahrheit ist das, was wir wahrnehmen. Man holt zum Beispiel aus dem Entsetzen das Bild des Entsetzen, bestimmt aus Unbestimmbarem etwas einigermassen Bestimmbares, aus Grausamem und Hässlichem  etwas Erinnerbares.  Es sind Zeugnisse. Eingetaucht in die Sinnlosigkeit, ergibt sich manchmal plötzlich Sinn. Ein Verstehen. Etwas blitzt auf, etwas Überrasches, Neues. Eine Freude, ein Schock. Mehr ist nicht. Es ist  viel.

Wie wahr sind Fotos?

Texte sind glaubwürdiger als Bilder, wurde und wird gesagt, und auch umgekehrt. Beides macht Sinn, jenachdem wie man gewichtet. Fotos können  harmonisch, chaotisch, aufregend, aber auch öde und langweilig sein. Sie  erklären nur bedingt, was sie zeigen, auch wenn wir die Situation kennen oder zu erkennen glauben. Fotos  sind wie alle Bilder  künstlich. Es geht weder um Wahrheit noch um Wirklichkeit, auch wenn es um beides geht.
Wir schätzen für uns ein, was ein Bild bedeutet, warum es uns anzieht, zu uns spricht. Es geht nicht um gut oder schlecht, weil, wie Samuel Beckett mit recht sagt, es nicht um Würste geht. Bilder nehmen uns ein, nehmen uns gefangen, können uns überwältigen oder kalt lassen. Darin besteht ihre “Wahrheit”, ihre Aussagekraft. Sie zeigen und erzählen.
“Die Geschichte zerfällt  in Bilder, nicht in Geschichten,” schrieb Walter Benjamin. Das Alltagsleben und die Kultur sind heute undenkbar ohne Fotos (Vidos und Film); sie sind wichtige Dokumente, aber nicht näher an unserer Realität als das Erzählte (Gehörte und Gelesene). Sie sind anders.
Fotos, hartnäckig als Wirklichkeitsabbilder geschätzt, sind alles andere als wirklich, und selbst die Bewunderer ihrer eigenen Urlaub- und Familienbilder wissen, dass das Abgebildete nicht das Abgebildet ist, sondern ein Bild davon. Fotografieren, losgelöst vom Zweck, etwas Selbstgemachtes festzuhalten, bleibt beim Entstehen und im  Endprodukt immer auch ein Stück Selbstdarstellung und Selbstanalye (wie alle Kunst).
                                
Die heute Heranwachsenden sind nicht nur mit Fotos  weil es im Überfluss gibt viel vertrauter. Fotos  ermöglichen  eine sich auf Bilder stützende Erinnerung, die scheinbar exakter ist als das dokumentlose Erinnern. Ich habe  in meiner Erinnerung eine meiner Grossmütter visuell präsent, weil ich sie als Zweieinhalbjähriger bei der  Totenmesse in der Sankt-Ursenkirche in meiner Heimatstadt im Sarg liegen sah, dank eines Fotos, obwohl dieses Bild in meinem Kopf, also mein eigenes direktes Erinnern,  vermutlich auf die ein  Jahr später am gleichen Ort stattfindene Beerdigung einer mir weniger nahestehendenTante zurückgeht. Eine gesuchte  Verwechslung. Man weiss inzwischen, wie Bilder die eigene Erinnerung  fälschen können. Ronald Reagan erzählte in den achtziger Jahren  in seinen Weltkriegserinnerungen unter Tränen wie in einem angschossenen Flugzeug alle Insassen abspringen sollten, ein schwerverletzter Soldat es nicht konnte, und ein junger, mutiger Pilot mit ihm im Flugzeug blieb , indem er sagte: “dann bringen wir die Kiste gemeinsam runter.” Eine ergreifende Geschichte. Sie stammt wortwörtlich aus dem Schwarzweissfilm “Wing and a Prayer”. Reagan war das nicht bewusst, er hielt es für sein Erlebnis. Keine Ausnahme.  Wir alle puzzeln uns anhand alter Fotos unsere eigenen Erinnerungen zusammen. Das tun auch Geschichts-wissenschafter: viele Generationen lang wurden Historiker geschult  an schriftlichern Quellen, Akten, Verträgen und Brief-interpretationen und  übernahmen Bildlegenden, die, wie heute geschätzt wird, bis zu 80 Prozent in den Geschichts-büchern fehlerhaft oder unvollständig wiedergegeben sind.

Die Wahrheit in der Fotografie?
Inzwischen scheinen Kameras und digitale Fotoapparate tatsächlich ein Medium ,so unentbehrlich wie der Laptop und das Handy. Kommunikation around ther clock. In der U-Bahn, im Kaffee,  überall die am Handy Herumfingernden, wie Stumme, neben den in öffentlichen Bereichen laut und hemmungslos ins Handy Sprechenden, als gäbe es nur sie, und die wie Zoombies nur noch mit der Kamera vor den Augen alles nur mögliche einfangen: Familienmit-glieder, Kollegen und Sehenswürdigkeiten. Fotographieren ist so selbstverständlich geworden wie lesen, schreiben und musizieren. Und es ist einfacher.
Das Festhalten in Bildern ist etwas sehr altes. Wenn in den Jagdpausen die Höhlen-bewohner Figuren in die Wände kritzelten und malten, dann wurde damit etwas beschworen. Es sollte nicht bloss ewas Gegenständliches gezeigt werden, es steckte dahinter  auch eine versuchte Bemächigung des Festgehaltenen dahinter, wie es religiöse Bilder bis heute tun.
L’art est inutile, sagt  Ben Vautier, übertreibend, aber nicht grundlos.  Sie ist nicht überflüssig, auch wenn sie aus dem Überfluss kommt. Nur: was zieht uns am scheinbar Nutzlosen, aber im guten Fall Überwältigenden an? Die redundante, aber nicht falsche Antwort wäre: das Überwälrigende.

Ich habe, als Vierjähriger angefangen, mich  in der Kleinstadt, in der ich aufwuchs, vor ein Haus, eine Kirche oder einen Baum  zu setzen, und am Anfang  mit einem Bleistift, später mit Pinsel und Aquarellfarben  das abzubilden versuchte, was ich sah. Eine Malerin sprach mich eines Tages beim Zeichnen an, und holte mich  in in ihr Atelier in eine Unterrichtsklasse für Anfänger. Ich lernte den Bleibstift auszuwählen (die Härte der Stifte zu unterscheiden), lernte Farben mischen, das perspektivische Sehen, mit Aquarellfarben zu malen, Schattierungen zu setzen. Alles aufregende Erfahrungen.  Später, in der Primarschule, wurde im Zeichenunterricht  nur die exakte Wiedergabe belohnt. Ich machte lustlos das Nötige, musste als Linkshänder mit Gewalt rechts  zeichnen lernen, und zog stundenlanges Fussballspielen dem Malunterricht vor.
Als fünfzhnjähriger entdeckte ich, ohne zu wissen wozu, eine fantastische  Bildwelt. Giotto, Piero de la Francesca, Cézanne,  Picasso, Léger und Mondrian. Plötzlich fingen die Bilder wieder an, mit mir  zu sprechen. Ich fiel zurück in ein Sehen, das ich, durch die Stadt und die Umgebung wandernd, mir früh angeeignet und während der Schulzeit vergessen hatte: Formen und Farben aufzuspüren, zu isolieren  und mich darin zu bewegen. Bernadetto Croce, ein heute fast vergessener spanischer Philosoph, auf den ich als Autodidakt damals stiess, sagte: Kunst erkennen ist einfach Intuition, ungesteuerte Einfälle, aber wir müssten diese Einfälle  ordnen und das meine  benennen. Das ist  einleuchtend, umfassend und scheint einfach. Aber der
Vorgang ist, wie wir wissen, unendlich kompliziert. Also geriet ich, mal unruhiger, mal gelassener  in das uferlose Feld  ästhetischer Erklärungen. Gleichzeitig aber schrieb ich auf, was ich mir dabei dachte, und zögernd, aber immer frecher, füllten sich meine Hefte mit Skizzen, Gedicht-fragmenten und Zeichnungen. Ich fing an - es war Nachkriegszeit und die Existential-philosophie gab mir einen Kompass  - herumzuwühlen in den Fragen: Warum gibt es uns, warum denken wir so wie wir denken. Das hiess naürlich auch: Wer bin ich. Was tue ich.Ich suchte Orientierung. Nur eines tat ich nie: fotografieren.
Als Autodidakt schliesslich doch an der Universität eingeschrieben, endete mein Studium in Soziologie, einer sogenannten Wirklichkeitswissenschaft. Als junger Forscher im Ruhrgebiet arbeitend, wo gerade die Kohle-Eisenproduktion, der Lebensnerv der Gegend eingestellt wurde, entdeckte ich,ohne selbst zu fotografieren, die Wichtigkeit von Fotos. Meine Skizzen der riesigen Kohlenhalden, der formstarken Fördertürme und Schmelzanlagen wirkten neben den exakten, ausdrucksvollen Fotos von Ulla und Bernd Becher harmlos.
Mehr als zwanzig Jahre später, fing ich selber mit dem an, was ich schon immer machen wollte: mit dem Kopf und den Händen zu arbeiten. Je mehr alles, was ich beim Malen und Figurenmachen wollte,  in Richtung Konzepte und Installationen ging, je klarer spürte ich, ich, dass sich meine  Arbeiten nicht einfach von einem Fotografen abbilden  liessen.  Ich brauchte  eigene Fotos, musste meine Arbeiten mit meinem Blick sehen und  festhalten. Ich hatte, beim Wechsel vom Schreiben ins Malen und Bildhauen  erfahren, wie sich meine Sichtweise veränderte; jetzt passierte mit dem Fotografieren etwas Ähnliches, wenn auch weniger dramatisch. Das Technische blieb Nebensache, auch wenn mich die Dunkelkammern meiner Freunde anzog. Zugucken, wie ein Foto entsteht, hat für Aussenstehende eine eigene, fast sakrale Handlung, anders, aber genau so faszienierend heute das Gucken auf den Bildschirm des Laptops, wo raffinierte Programme Fotos umwandeln helfen, Millimeter um Millimeter, wenn es sein muss und, noch verrückter, beliebig erfundene Fotos kreiieren können.

Fotografieren: authentisch oder gar wahr?                            
Die Macher der ersten  Fotos versuchten die Realität festzuhalten: Lebenswelten, Porträts, Strassen- und Landschaftsbilder, Kriegsschauplätze, Aufstände. Alles mögliche.  Schwarzweiss-bilder, scharf oder unscharf, retouchiert oder nicht, manchmal koloriert und montiert. Die gleichen Sujets, die auch Zeichner, Maler und Bildhauer beschäftigten. Die ersten Fotografen galten dabei rasch als realistischer, wirklichkeits-näher als Maler, Grafiker und Zeichner.  Aber  ist ein Bild  ein wahres Bild, weil es etwas, das existiert oder existieren könnte, widergibt, oder zeigt  es nur das,  was es tatsächlich zeigt.  Aber was zeigt es, und wem?   Wir alle “lesen” Bilder  anders, und wo das  Urteil sich ähnelt, handelt es sich fast immer um Angelerntes, um Vergleichen, um systematisierende  Einordnungen.  Die Kunsthistoriker und Kunstkritiker produzieren, um Bilder erklären zu können, die Kategorien und Begriffe, die, ständig an Neues angepasst, nach einer Diskussionsphase in Fachkreisen mehr oder weniger brav übernommen werden. Wir wissen  aber  auch, dass Kategorisieren nicht genügt. Es sind Grobraster, die zunächst einmal Sinn machen.
Es ist, um bei der Fotografie zu bleiben,  spannend, zu verfolgen, wie sich im Laufe der Zeit die Einschätzung der Bilder von Fotoreportern, die vor Ort Ereignisse festhalten, verändert  hat.  Zunächst galten Reportagebilder als gültige Dokumente, genau so wie  Ferienbilder von Amateuren oder Familienfotos. Die Porträts- und Familienbilder der Berufsfotografen waren  als erste edrkennbar künstlich. Das offsichtlich Inszenierte (gestellte und nofalls auch retouchierte) der frühen Porträts- und Gruppenaufnahmen, das alte Fotografien so faszinierend macht, hat die Fotografie relativ spät, aber dann wuchtig in den Kunsthimmel gebracht. Nicht sie allein.
Wichtiger für die Weiterentwicklung des Fotografierens waren von Anfang an Bildreporter und neugierige Amateure, die mit Schnappschüssen arbeiteten. Das  kleinere und rascher arbeitende Kameras.

Handwerk und Obsession. Für Paul Virilio, dem Theoretiker der Beschleunigung, gibt es kein Foto ohne in situ. Jedes Foto hat einen Ort zu haben, es findet statt im Augenblick. Deswegen, und eigentlich erstaunlich, gibt es für Virilio nicht nur eine Krise der Fotografie; für ihn bedeutet die Digitalisierung das Ende der Geschichte der Fotographie, weil jetzt alles veränderbar ist, nichts mehr eine Dauer hat.  “Kaum ausgelöst, ist alles schon vorbei.” Die Stärke der Fotographie ist für ihn die Augenblicklichkeit ihrer Wahrnehmung, obwohl er wissen muss, dass dies immer nur für einen Teil der Fotos galt. Und obwohl Virilio sich nicht mehr über Wahrheit  äussern will, “authentifizieren” Fotos für ihn Szenen, Ereignisse und Personen, die wahr sind. 
“Das war einmal”, sagt Roland Barthes, und hat recht.  In Wirklichkeit waren Fotos  nie “wahr”. Sie schienen einen hohen Realitäts-gehalt zu vermitteln. Inszenierung und  Retouchieren gehörten bei Fotos von professionellen Fotografen aber immer dazu. Ihre Fotos  schienen “wahrer” als viele heutige Kunstfotos und waren doch immer klar  inszenierte “Bilder”.

Die vordigitalen, besonders die Schwarz-Weissbilder, geniessen heute zwar eine  neue Authentizität, wie sie so für die Zeitgenossen  nicht gegeben war. Die neue  Wahrnehmung hat nicht  mehr primär mit Wirklichkeitsnähe oder gar Wirklichkeits-treue zu tun, sondern mit ästhetischen Qualitäten. 
Die Fotos von Hillu und Bernd Becher, heute Vorläufer und Vollender einer Stilrichtung, die auf dem Kunstmarkt Höchstpreise erzielen, galten früher als Dokumentarfotografien. Ihre Fotos  bekamen die damalige Bedeutung  zusammen  mit dem Kommentar, der wichtig, wenn nicht wichtiger war als die  Bilder, und wurden  erst dadurch authentifiziert. Heute werden sie als autonome Bilder hoch geschätzt und gehandelt. Als Kunst. Das umfangreichere auftauchen vonFotografien in  Kunst-galerien und Kunstmuseen, ging Hand in Hand mit der Durchsetzung der modernen Kunst, die, ohne das Gegenständliche zu ignorieren, das Ungegenständlich mit  durchsetzte und das Gegenständliche bis zur Ungegenständlichkeit veränderte.
Virilios Bemerkung,  die Technik habe das Schlimmste zu jederzeit und überall ermöglicht, und dahinter stehe das technische Denken, deckt sich mit  Heidegger, Günter Anders und anderen Technikkritikern, die sorgfältiger argumentieren.  Dass die Digitalisierung alles im Nachhinein veränderbar mache, setzt am falschen Ende an. Wenn Fotos schon von Anfang an Inszenierungen waren, ist die  Ausweitung nachträglicher Eingriffe eine zwangsläufige Entwicklung.  Fotos sind künstlich. Die Frage ist: Warum  sind wir immer wieder von Fotos fasziniert? Die Ankündigung eines Endes der Fotographie ist jedenfalls genau so verfrüht, wie die seinerzeitige Ankündigungen des Ende der Malerei. Fotographien sind  im Zeitalter des Digitalen etwas anderes als Fotos zu Zeiten der Gebrüder Lumière; abgesehen von der Technik entsteht aber noch immer das Gleiche: Bilder. Bilder, unterschiedlich entfernt von dem, was unsere Augen wahrnehmen, aber künstliche Gebilde, die davon abhängen, wie der Fotografierende sie macht und wie wir sie sehen. Ihre Anerkennung als materiellen Wert  erlangen  sie über den Markt, wie alle Kunst. Das Bedürfnis nach Neuem,  unterstützt von Kunstkritikern und Kunstheoretikern, machen heute Fotos so wertvoll wie Gemaltes oder Konzeptkunst und Installationen.  Der  Erfolg und der fast gleichzeitig verkündete Niedergang der Fotos wird stilisiert als “Zeichen für Tod, Museum und Ende”;  wir entdecken, meint Virilio, wieder die Verblendung. Er meint  die Entfremdung. Kulturkritisch korrekt, nur,   wie können wir das falsche Leben mit Kunst  überwinden, wenn die existierenden Kultur ökonomisch bestimmt  und weitgehend eine Medienkultur geworden ist.  Weder  Kunstwerke noch  Kunstgeschmack sind durch “unabhängige”, rein objektivistische Kriterien bestimmbar, aber eben so wenig durch rein subjektivistische.   Die sich durchsetzenden Techniken und die jeweilss jeweils entsprechenden Lebenswelten lassen Spielräume zu. Man kann noch immer, auch mit Fotos, probieren, in diese einzubrechen.  

Schnappschüsse    Millionen in der Welt Herumstreifende, die ohne Unterlass mit dem Handy oder einer Kamera  drauflos fotografieren. Fotos  sind leichter machbar als Schreiben und Denken, scheinbar kinderleicht. Trotzdem, die obszön wachsende Flut wird auf der anderen Seite das sorgfältige Dokumentieren nicht hindern (die Historiker sind gerade dabei, ihren Umgang mit Bildern reflektierter zu betreiben). Und es werden, im Wechsel von Schwarzweiss und Farbig, neben viel Schrott weiterhin erstaunlich intensive Bilder entstehen. Es wird die heftig geführte Debatte digital versus analoges Fotografieren versanden, genau wie die gleich heftig geführte Debatte um Schwarzweiss versus Farbig versandet ist.
Es wird auch  immer unwichtiger, ob ein  Fotografierender die Endherstellung allein anfertigt oder nicht. “Wahr-haftige” Fotos
aber  wird es weiter geben. Fotos die haften, darunter Hochinszeniertes, und Hochartifizielles,  frei Imaginiertes, das Unbekanntes herbeizaubert, Surreales, Reales, das den Schrecken festzumachen versucht, unsere Körpersprache, unsere Emotionen, Ängste und Hoffnungen. Vibrierende Bilder und atemberaubend stille.  Rein Artifizielles wird noch artifizieller und gleichsam “wirklicher” werden, auch    überraschende  Schnappschüsse wird es weiter geben und ganz einfache Bilder. Für mich habe ich entdeckt: Fotos können eine Wirklichkeit sichtbar machen, die ich in der Kunst  und im Leben suche.

 



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©  Urs Jaeggi  /  Website:  Universes in Universe  &  María Linares