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erschien in: SONNTAG, Solothurner Zeitung, 17.7.2011
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Reiche Werk- und Lebenslandschaft

«Kunst ist überall»: Urs Jaeggis grosse Retrospektive in Berlin

 

Allein der Schauplatz der ehemaligen Malzfabrik in Schöneberg, einem dunkelroten weitläufigen Klinkerbau, ist ein Besuch wert, ist aber auch für viele Berliner erst jetzt anlässlich von Urs Jaeggis Ausstellung zur Entdeckung geworden.

 

Die Arbeitshallen und Lagerräume sind ausgeräumt, aber Spuren sind da, an Wänden, Decken, auf dem Boden. Urs Jaeggi bezieht ihre Ausstrahlung in seine grossangelegte Retrospektive mit ein, arbeitet mit der je eigenen Atmosphäre der Räume: Ein wunderbares Zusammenspiel seiner Objekte, Installationen, Bilder, Skulpturen zieht in den Bann. Fundstücke, an Ort und Stelle aufgefallen, bringen hier ihre ästhetischen Qualitäten zur Geltung und geraten gleichzeitig in den Diskurs um Arbeitswelt und Lebenszusammenhänge. Noch nie ist deutlicher geworden, wie intensiv sich in Urs Jaeggis bildnerischem Schaffen - ebenso wie in seinem literarischen und wissenschaftlich-soziologischen Werk - existenzielle und davon nicht zu trennende gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen spiegeln.
Labyrinthisch der erste Eindruck im weitläufigen Obergeschoss der Malzfabrik, dem ehemaligen Zulieferbetrieb für die Berliner Brauereien. Durch Gänge, um Ecken, und man gerät in ein Halbdunkel. Daraus leuchten Wäscheleinen, weisse Leintücher, ein Wäschekorb aus Weidengeflecht: Erinnerung an das Dämmerlicht auf Dachböden, an Kindheit. An der Mauer zwei Fotografien eines Totengesichts: «meine Mutter», und eine kleine Schwarzweissaufnahme «Mutter und Söhne, 1955». Sparsam ist Biographie skizziert; zwei Ultraschallbilder erinnern Lebensbedrohliches. Im selben Raum hat Urs Jaeggi flache rostblechverkleidete Bodenskulpturen ausgelegt, an die Wand grosse, stellenweise brandgeschwärzte Tafeln aus rohen Holzbrettern gestellt. Grosse Leinwandbilder, Kompositionen mit Kreissegmenten, verweisen auf die Vielfalt künstlerischer Zugriffe.
 Urs Jaeggi, 1931 in Solothurn geboren, legt mit der Werk- auch eine Lebenslandschaft an. Organisiert hat die Retrospektive die Galeristin Marianne Grob, Berlin und Luzern; als Kurator fungierte Rolf Külz-Mackenzie. Entworfen und eingerichtet aber hat Urs Jaeggi. Werkgruppen erhalten in der vom Schauplatz angeregten Dramaturgie scharfe und sprechende Konturen. Eine eigene Sogkraft entwickeln die grossen Buchstaben-Bilder, Chaos, darin Erkennbares. Hohe, schmale Skulpturen, rudimentäre Skelettformen – «Ohne Worte», 1989/91 – sind mit ihrer brüchig gewordenen Packpapierhülle von der Zeit gezeichnet. Die Armut des Materials, das Unfertig-Wirkende haben sie mit manchen andern Arbeiten gemein. Auch damit hält Urs Jaeggi an Erfahrungen, im Denken, im Leben, fest: Sicher ist nichts. «Wo wie weiter» schreibt er über die dichte Hommage an Beckett (1991), ein Ensemble monochrom-grauer Skulpturen, verformter geometrischer Grundformen, Variation des Gleichförmigen; an der Wand Leinwandbilder, graue Dreieck-Formen vor gelb.
         Verzweiflung schwingt mit. So wie im letzten Raum - «Zerstö    rung» (2011) - mit seinen Bodeninstallationen, den schmalen leinwandverkleideten Kästen, zu sehen als Särge, hineingestopftes Leichentuch. Daneben zeichnen rostige Transportbänder Gitter, Barrieren, Fussangeln. Die Montage von Pressefotos vergegenwärtigt Gewalt, Erniedrigung, in Mexiko, im Iran. Urs Jaeggis eigene Fotos evozieren Schönheit von Dingen der Natur im Zerfall – vertrocknete Kakteen,  ein dürrer, von Schutt und Asche umgebener Baum. Es schwingt auch mit das Widerspiel eines hartnäckigen Standhaltens gegenüber Schmerz und Tod, dieser Klammer um alles Leben.

 

Urs Jaeggi. «Kunst ist überall». Malzfabrik, Bessemerstr. 1-5, Berlin. Bis 7. August 2011. Geöffnet Sa, So, 13-17 Uhr.

 

 

 


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