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Literaturport

 

"Al_pha_be_te" oder: "Wo bin ich, wenn es mich gibt?"

Der Titel der Ausstellung von Urs Jaeggi zu seinem achtzigsten Geburtstag im Literaturhaus Berlin verweist einerseits im ersten Teil auf die grundlegenden Kulturtechniken Schreiben und Lesen, andererseits im zweiten Teil auf eine subjektive Selbstreflexion in Frageform. Der Kern des Schreibens, das Alphabet in einer computerorientierten Schreibweise mit den Gedankenstrichen quasi am Boden der Schriftlinie und dann die Frage „Wo bin ich, wenn es mich gibt?“  ist eine Frage nach dem eigenen Standort und zugleich nach dem Selbst, mithin eine philosophische Frage.

Es ist die zweite Ausstellung zum Geburtstag in diesem Jahr, die Arbeiten aus der Zeit von 1985 bis heute präsentiert; die erste im Juni hatte den Titel „Kunst ist überall“ und war eine Art unvollständiger Retrospektive für die Zeit von 1965 bis heute – bei der Vielzahl der künstlerischen Arbeiten von Urs Jaeggi wäre eine vollständige Werkschau nicht möglich gewesen.

Urs Jaeggi ist Wissenschaftler, er analysiert als Soziologe soziale Phänomene nicht nur empirisch, sondern auch wie ein teilnehmender Beobachter von Innen heraus als Beteiligter. Er schreibt wissenschaftliche Werke, Essays und soziale und politische Beobachtungen, um nach menschlichen und zivilen Perspektiven in einer kapitalistisch geprägten Welt zu suchen, die aus den Fugen zu geraten droht. Er ist zugleich Schriftsteller, schreibt Romane, Geschichten und Poesie in denen er der Realität und sich selbst nahe zu kommen sucht. Und er ist bildender Künstler. Zeichnen, Malen, Schweissen für Metallskulpturen und anderes mehr hat er nicht nur als Autodidakt sich erarbeitet, sondern auch zudem gelernt. Zeichnen betrachtet er seit seiner Kindheit als eine selbsttherapeutische Arbeit. Und er hat intensiv sehen und hören gelernt und alle seine Sinne gebildet und die Wahrnehmung geschärft. Er ist musikalisch und als solcher besonders ein Liebhaber von Jazz-Musik, die im Rhythmus der Gegenwart spielt und ihre tonale oder atonale Melodik als reale oder auch konkrete Musik entwickelt. Der Schrei nach einem freien Leben, nach Entgrenzung und der Möglichkeit sich frei zu artikulieren spielt für ihn eine grosse Rolle und die Töne und Melodien, die der alltägliche Verkehr, die Maschinen, die Menschen um uns herum und anderes mehr real produzieren. Urs Jaeggi praktiziert die Kunstform der Musik selbst nur wenig, da er nie das Spielen eines Instrumentes gelernt hat. So hört er frei improvisierten Jazz, singt beim Arbeiten ständig vor sich hin und arbeitet gerne mit Musikern zusammen. In seinen Hörspielen, die er auch ebenso wie Theaterstücke geschrieben hat, setzt er seine eigene Stimme oftmals rhythmisch und swingend ein, wie beim Vortrag seiner Gedichte.

In dem 2002 erschienen Buch „Kunst“ schreibt er: „Während das Denken den Bedingungen seiner technischen Ausdrucksmöglichkeiten folgt, so folgt die Kunst nur bedingt und oft nur scheinbar. Unsere fünf Sinne lassen eine radikale, endgültige Entrealisierung  nicht zu. Alle möglichen Materialien (Leinwand, Farbe, Textilien), und Musik und Sprache lassen sich hineinmischen und wenn, positiv, von künstlerischen Arbeiten etwas herausragt, dann ist es das Poetische.“

In den nicht so sehr für bildende Kunst ausgerichteten Räumen des Literaturhauses   hat Urs Jaeggi die auf die repräsentative Gründerzeit zurückgehenden Räume mit ihrem vielen dunklen Holz und ihren dunkelroten Prägetapeten im Treppenhaus und den Foyers für seine bildnerische Poesie neu definiert. Entstanden sind Inszenierungen an den Wänden von Bildfolgen - vor allem Zeichnungen, aber auch objets trouvés (Fundstücke) -, die einerseits Strukturen abbilden bzw. untersuchen.
Durch die Anordnung oder Inszenierung andererseits der kleinen Blätter, auf die Wände mit Nadeln gepinnt, entstehen poetische Erzählungen in Bildfolgen, die unterschiedlich ausdeutbar sind. Beim Entschlüsseln kann der Betrachter seinen eigenen Geschichten nachgehen, Fragen stellen, sich eigene Antworten ausdenken. Und er kann Fragen nach dem warum stellen. Als eine Antwort des Künstlers Jaeggi bietet sich folgendes aus wiederum seinem Buch „Kunst“ an: „Was mache ich, wenn ich etwas mache, ist die alte Frage. Heute, wo alles Machbare auch von Nichtkünstlern machbar scheint, sind nur sehr egomane oder einfältige Künstler fraglos von dem überzeugt, was sie machen, weil, wie immer man es drehen und wenden will, die Beliebigkeit, die als das Ein und Alles gilt, ist, was sie vorgibt zu sein: beliebig. Ein beliebiges Einerlei, das sich scheinbar mühelos durchgesetzt hat. Die einen verweigern die Erklärung, die andern erläutern, was es bedeutet. Die Erklärer als Kastrierer machen Schnitte, kodieren, auch dann, wenn es nur um modisches Bescheid-wissen (Beschneidwissen) geht. Als Richter (Kritiker) oder causeur (Schwätzer) wollen sie das gleiche: einordnen, hervorheben, rechthaben, gleichgültig, um was es geht. Wir leben mit und aus den Beständen. Bilder sind Erinnerung und Entwürfe, also Geschichte, aber ob Geschichte noch erfahrbar wird, ist nicht ausgemacht. Die Generation, die ´ihre' Geschichte in der Geschichte probte, ist weg oder am Abtreten. Und jetzt? Es genügt nicht, das Kartell des Ästhetischen zu denunzieren, um auf der richtigen Seite zu stehen. In der Zeit, als der Warencharakter der Kunst so ernst genommen wurde nie Wahrheit, geriet diese Einsicht so sehr zum Kern, dass Nachfragen nach dem Ausdruck oder gar Harmonie nicht zugelassen wurden.“

An Buchstaben oder Musiknoten erinnernde Bananenschalen, die rhythmisch an die Wand gepinnt sind wie Schmetterlinge im Schaukasten sowie auf Leinwand mit dem Pinsel gezeichnete Schriftzeichen ohne Zusammenhang verweisen andernorts (im grossen Raum an der Rückseite) als sogenannte Skripturen auf den Prozess des mit den Händen Schreibens, der uns in Zeiten des Computers immer mehr verloren geht, so wie das Rechnen durch den Taschenrechner.

Viele Zeichnungen sind als Blindzeichnungen entstanden. Der Künstler schaute nur auf das Abzubildende und folgte mit den Augen nicht seinen Händen noch schaute er während des Zeichnens auf das Papier. Er hob diese Kontrolle auf, folgte seinen Eindrücken und seinem Unterbewusstsein. Dies ist eine besondere Form der Kreativität, die bereits von den Surrealisten im Verbund mit den Erkenntnissen der Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts praktiziert wurde. Diese versuchten mit der „écriture automatique“ nach Breton den „Königsweg“ zu jenem Bereich zu finden, den sie „sur-réalité“ – Überrealität – nannten. Der mir gut bekannte Münchner Künstler Ugo Dossi betreibt diese Form der Kreativität über Hypnose mit Versuchspersonen gar dazu, um Bilder aus dem kollektiven Unbewussten zu erzeugen, die einerseits persönlich ausdeutbar werden und andererseits ihm dazu dienen Piktogramme zu entwickeln. Bei Dossi wie bei Urs Jaeggi werden mit dieser „Technik“ archetypische Bilder erzeugt. Bei Jaeggi wird die Formensprache der Moderne des 20. Jahrhunderts in den Zeichnungen sichtbar, die sich in unsere künstlerische Wahrnehmung eingeschliffen hat. Erotische Themen treten häufig in den Vordergrund. Eingestreut in diese poetischen Erzählungen werden Texte – kurze Gedichte und Aphorismen – die dem Betrachter als Spuren für eine Ausdeutung dienen können. Gleichem Zweck dienen die Fundstücke – Sicheln, Eisen- und Holzstücke, Schuhe auf Holz als Masken arrangiert oder eine rot angestrichene Harke beispielsweise.

Es werden zudem Grundformen auf Papier gebracht, wie die Darstellung eines Tisches aus verschiedenen Richtungen ohne komplette Perspektive, rot auf bräunlichem Papier, die damit spielen, dass Kinder zum Beispiel einen Gegenstand meistens eindimensional abbilden. Schliesslich müssen sie nach Paul Feyerabend in seiner kürzlich posthum aufgelegten „Naturphilosophie“ (ursprünglich vor dreissig Jahren geschrieben) die additive Interpretation im zweidimensionalen Fall erst lernen, „dass man sie dem Bilde nicht ohne Vorbereitung entnehmen kann. Beispiele ägyptischer Zeichnungen und Malereien, die man oft nur in Gegenwart des dargestellten Gegenstandes entschlüsseln kann, geben eine Idee von der Art und vom Ausmass der nötigen Information.“ Jaeggi spielt in diesem Falle nicht nur damit, dass der Betrachter die Kenntnis der zweidimensionalen Abbildung sich selbst ergänzen kann, sondern mit den kindlichen Urvorstellungen, oder im Sinne Paul Feyerabends: „der Künstler imitiert nicht den Gegenstand, sondern das Erinnerungsbild des Gegenstandes, und diese hat die angegebenen Eigenschaften.“

Eine grosse Zeichnung, die dicken geometrischen Balken-Linien schwarz ausgeschnitten auf weissen Karton geklebt, an die Rohkonstruktion der Stahlträger eines Wolkenkratzers erinnernd, benennt Urs Jaeggi als New York ???? und konfrontiert sie mit der Skulptur eines grossen L mit dem Titel ::::NN::::::???? in rostigem Blech, hinter die formlose Steinkugeln am Boden ausgestreut sind, die an abgeschlagene Köpfe, wie sie während der französischen Revolution so häufiger vorgekommen sein sollen, erinnern. Und tatsächlich hat Urs Jaeggi diese kopfgrossen Kugeln im Innenhof des Pariser Louvre gefunden, als dieser für die Pei’sche Glaspyramide ausgeräumt wurde.

Im Garten des Hauses ragen drei Skulpturen auf, rostige Engel aus Eisenblech auf kleinen Sockeln, die langsam vor sich hin erodieren und zugleich wie würdevolle Beschützer im Grünen stehen.

Hörspiele und ein Video mit Sequenzen aus Ausstellungen von Urs Jaeggi sind zusätzlich zu hören und sehen.

Urs Jaeggi ist ein Künstler, der sich der Realität nicht entzieht, der aber zugleich seinen Träumen nachgeht. Er mischt sich mit seinen Möglichkeiten ein in die Prozesse der Gegenwart, schreibend, malend, zeichnend mit poetischen Beschreibungen und Bildern. In dem Essaybuch „Kunst“ äussert er sich dazu wie folgt: „Jetzt, im Alltag, entfällt durch Rationalisierung und Technologisierung für immer mehr Menschen eine beruflich sinnvolle Tätigkeit. Die Ökonomie entlässt die Entbehrlichen, während in der Kunst  unentwegt mehr beschäftigt sind, fremd- oder eigensubventioniert, aber von Sinn ist immer weniger die Rede ist. Kunst kommt nicht von Können, schreibt ein Maler. Kunst ist genau das, was man nicht kann. Ihren Absolutheitsanspruch einzulösen gelingt der Kunst nicht, gelang ihr nie, aber sie kann auch nicht darauf verzichten. Kunst ist manisch. Sie geht nach etwas, das nicht wiedererkennbar ist in allem, was wir zu erkennen vermögen und doch bleibt ihr Anspruch. Wacher träumen, ausgezehrt, bis zur Unerträglichkeit. Intensiv, entfesselt. Bleibt dieses Wollen heute ein rückwärtsgerichteter Traum, Insel für einige Obsessive, Verrückte?“ Mit diesen Sätzen von Urs Jaeggi will ich enden auch in der Hoffnung, dass wir, Urs und ich, noch viele Projekte gemeinsam realisieren werden.

Nicht vergessen möchte ich ein paar Hinweise. Einmal die Danksagungen an die Mitarbeiter des Hauses, seinen Leiter Ernest Wichner, der die Ausstellung ermöglicht und ganz entschieden unterstützt hat, auch durch die Beschaffung von Geld, ohne das es nun einmal nicht geht. Dank auch dem Team des Hauses, Frau Büdel, Frau Holzer und vor allem Herr Januszewski und seinen beiden Helfern sowie dem Hausmeister und den weiteren Mitarbeitern.

Vor allem möchte ich auf das Buch zum 80. Geburtstag von Urs Jaeggi verweisen, das ab heute zu haben ist. „grenz über“ ist der Titel des beim Verlag Stroemfeld Basel / Frankfurt/Main verlegten Buches. Mein Mitherausgeber Hannes Schwenger, dem ich für seine immer verlässliche kollegiale und freundschaftliche Zusammenarbeit sehr zu danken habe, wird es noch vorstellen und der Verleger KD Wolff gewiss auch noch ein paar Sätze dazu sagen.

 

Rolf Külz-Mackenzie, Kurator
Berlin, 16. September 2011


Kunst ist überall

„Kunst ist überall“, man muss sie nur erkennen und sehen, so könnte der Titel der retrospektiven Ausstellung von Urs Jaeggi ergänzt werden. In Erweiterung des Begriffes von Kunst und Kunstwerk eines Marcel Duchamps, der mit seiner künstlerisch geschärften Wahrnehmung Gegenstände des Alltags aus ihrem Zusammenhang oder ihrer bisherigen Funktion löste und sie neu definierte, beispielsweise ein Urinal umdrehte, ein wenig nachbehandelte und seiner Gestalt und dem Schwung des Porzellans nach mit dem Titel „Fountain“ zum Kunstwerk erklärte, bestimmt Urs Jaeggi nach konzeptionellen Überlegungen was als Kunst zu betrachten ist.

Kunst findet sich danach eben überall, sofern man offene Augen und die Sensibilität hat sie zu erkennen, zu erklären, zu definieren. In diesem Sinne ist bereits das grosse Backsteingebäude der Malzfabrik, in dem die Ausstellung realisiert wurde, die sich Urs und uns zu seinem 80. Geburtstag schenkte, und an deren Ausgestaltung ich mit einigen wenigen Freunden von Urs, die ich später noch würdigen werde, Anteil haben durfte, ein Kunstwerk. Schon von weitem fallen die eigentümlichen riesigen Lüftungs-Schornsteine auf, die sich auf dem Dach wie geharnischte Zwerge, die ins Überdimensionale aufgeblasen wurden, langsam drehen.

Der Gebäudekomplex ist nach dem Fall der Mauer in eine wirtschaftlich wie stadträumliche Randlage geraten und vor allem das alte rote Backsteingebäude rottet seither vor sich hin. 1913 wurde die Malzfabrik errichtet für die vielen Berliner Brauereien. Nach dem Bau der Mauer, als West-Berlin in eine Insellage geraten war, entstand hier die grösste Malzfabrik Europas und 1992, als nach und nach alle Berliner Brauereien in Westdeutsche Hände gerieten, wurde die Brau-Malzherstellung in Berlin aufgegeben. Seither sucht der Gebäudekomplex nach einer neuen Funktion. Eine Schweizer Entwicklergruppe bemüht sich neues Leben und neue wirtschaftliche Perspektiven zu entwickeln und erste Schritte sind gemacht mit einem gemischten Konzept, in dem auch ein wenig Kunst und Kultur Platz hat. Rundherum sind nahe der Stadtautobahn Handelskomplexe entstanden, die Wohnen und Produktion voneinander entkoppeln und monofunktional in der Landschaft stehen.

Urs Jaeggi hat sich mit der Geschichte des Industriegebäudes und seiner Produktionsvergangenheit auseinander gesetzt. Er ist ein intra- und interdisziplinar denkender und arbeitender Mensch. Nach Bankenlehre kam er mit externer Matura über autodidaktisches Lernen in seinem Heimatland Schweiz zur Soziologie. Den Künsten hatte er sich aber schon vorher zugewandt, schrieb Theaterkritiken und Stücke, Literaturkritiken und Lyrik, malte und zeichnete, letztere von Kindheit an.

Nach einer Karriere als Soziologe zuerst in Bern und u.a. in New York und Berlin, wo er über 20 Jahre als Ordinarius für Soziologie lehrte und forschte, wandte er sich mit sechzig Jahren endlich ganz der bildenden Kunst zu. Vordem hatte er jedoch neben zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen schon mehrere Romane geschrieben, darunter den sehr erfolgreichen Roman  „Brandeis“ (1978)  und „Ruth“, für den er 1981 den Bachmann Preis erhielt.  Und als Schriftsteller ist er auch weiterhin aktiv. Seine letzten beiden Romane sind 2009 und 2010 erschienen: „wie wir“ und „EUDORA“, welches auch als Theaterstück in seiner Heimatstadt Solothurn vor kurzem seine Uraufführung erfahren hat. Wenn möglich – es hängt wesentlich vom Geld ab – soll es im Herbst im Literaturhaus Berlin ein Gastspiel geben.

In einem Gang durch die Ausstellung werde ich versuchen die Grundzüge ein wenig zu erklären. Fragen werden sich für den Betrachter hoffentlich aus dem Sehen ergeben und Antworten kann er sich selbst geben, ansonsten kann auch der Künstler gefragt werden.

Nach der Biographie des Künstlers im Eingangsbereich ist ein grosses Gemälde zu sehen, das auf mehrfarbigem Grund Verpflechtungslinien zeigt. Es ist eines seiner aktuellen Werke aus der letzten Zeit. Der Raum 1 ist durch Maschinen und Technik bestimmt. Dazwischen stehen Scripturbilder und Zeichnungen und abstrakt-konkrete Arbeiten, die sich aus einzelnen Leinwänden unterschiedlich fügen in die Technik, die dadurch eine eigenständige Ausdruckskraft entwickelt. Die technischen Elemente sind Teil der Inszenierung. Im Hintergrund sind Töne – elektro-musikalische Improvisationen von Hans Koch - von einem Band zu hören.

Raum 2. an einem Gang mit schmutzig grünen Metallschrägen gelegen, liegt in schummrigem Licht braun in braun. Der Boden und die Wände sind mit dickem Staub und Malzabfall bedeckt, es zeigen sich überraschende skulpturale Bilder, rostige Blechrelieffe auf dunklen Holzbrettern an die Wände gelehnt, die an Zeichnungen des Informell erinnern, Blecharbeiten mit rostigen Blechteilen aneinandergefügt, die mit dem spärlichen Licht ein abstrakt expressionistisches Leuchten erzeugen, sowie drei grosse Metallskulpturen, die den Raum leicht gespenstisch strukturieren. Da stehen eigentümliche Riesen im Raum, der eine Gesamtinszenierung ist, vom Niedergang einer Industrie, Verfall und Aufstand oder Auferstehung aus dem Verfall.

Raum 3 wird bestimmt von konkreter Malerei, Formen, Flächen gelb-schwarz, schwarz auf weiss sowie einer dunklen Stelengruppe mit graphitfarbenen kleinen Skulpturen auf der Suche nach Grundformen; ihr Titel ist „Hommage á Samuel Beckett“.

In einen Zwischenraum lehnt eine Stelengruppe an den Wänden, die an Figurengruppen von Max Ernst und die verzerrten Menschenabbilder von Alberto Giacometti erinnern. Auch hier sind es Grundformen menschlicher Gestalten, die der Künstler zusammen bringt in einer grossen Formen-Vielfalt.

Der 5. Raum ist ein hoher grosser Saal mit ziegelrotem Plattenboden. Er wird wesentlich bestimmt von einer weissen Wand mit auf halber Höhe einer Reihung von T’s, den abgeschnittenen T-Trägern einer herausgetrennten Zwischendecke. Jetzt ist eine freie Decke zu sehen, die an tachistische Muster denken lässt. Die Seitenwände sind glatter grauer Stahlbeton mit überall den T-Reihen auf ca. 5 Meter Höhe und darüber Spuren und Ablagerungen aus der Malzproduktion, die eigene Bilderfriese bilden. Eine Bodenplastik, Särge aus dem Projekt „I.011.02“ (2002), lange schmale mit beigem Rupfen gefasste und drapierte Holzkästen liegen rechts in loser Reihung, links sind Zeichnungen von Urs gleich, schwarze Metallkettenstücke zu einer Bodenplastik in den Raum gezogen. An der weissen Stirnwand aus beigem Rupfen ist eine nach rechts offene Flagge an der Wand und sind links über Eck Presse-Fotos von Armut, Grenzen mit Polizeigewalt, Aufruhr und Katastrophen an die Wand gereiht. Dazwischen eine grosse Zeichnung nach Angelus Novus von Paul Klee, über den u.a. Walter Benjamin eine Reflexion über den Begriff der Geschichte geschrieben hat und ein weisses grosses Blatt mit Reflexionen von Heiner Müller zu Benjamin und Klee sowie einem Gedicht von Urs Jaeggi dazu. An der Eingangswand hängt eine Reihe von Farbfotos von Urs Jaeggi, seine ersten Fotoarbeiten von 2009/10, die auf Reisen entstanden sind.  Der Raum selbst wird zur Inszenierung durch die Gestaltung und Intervention durch die Kunst.

Raum 6 wird Eingangs bestimmt von grossen an die Wände gelehnten Blechrelieffen auf Holzbohlen an den Wänden und rostigen Blecharbeiten als Bodenplastik – Abstraktion und konkrete zeichenhafte Skulptur.
Auf der Längswand des Raumes hängen zwei Malereien an der Wand. Offene gelbe Bögen auf schwarzem Grund, die konträr zueinander gehangen keine Kreisfläche bilden, aber an sie denken lassen.
Weisse Leintücher auf Wäscheleinen trennen den Raum in ein Vorne und Hinten. Sie lassen Durchblicke zu und gemahnen in ihrem sauberen Weiss in Mitten des Verfalls der langen Industriehalle irgendwie an den Tod.
Es folgen im hinteren Teil abstrakte Farbfeldmalerei und Fundstücke aus der Fabrikation, installierte Metallstelen mit kleinen Fundstücken und halbfigurative abstrahierte Landschaftsmalerei, zwei Glasscheiben vor beschädigter Wand, die diese zum Bild erklären sowie zwei Ultraschallfotos von der Leber von Urs Jaeggi und zwei aufgezogene Fotos vom Totengesicht seiner Mutter. Sie sind zueinander allegorisch oder biografisch zu deuten.
Und vor einer zugemauerten Öffnung, auf grünem Grund, hängt das erste Öl-Gemälde von Urs Jaeggi, ein Boxer rot angelegt auf die Kontur, aus dem Jahr 1965.
Der sehr verrottete grosse und lange Raum, Putz rieselt von der Decke, die Wände zeigen Risse und Schrunden, Metallschienen rosten vor sich hin etc., wird durch die hineininstallierten Kunstwerke selbst zur künstlerischen Inszenierung.

In Raum 7 sind Fundstücke aus der Produktion der Malzfabrik mit besonderer eigener Ästhetik  zusammen getragen und inszeniert. Zwei graue Blechplatten an die Wand gehangen, wirken wie abstrakte Gemälde.

Der 8. Raum ist dem Thema Mode gewidmet. Hosen werden zu einem Kronleuchter, der von der Decke schwebt, eine rote Hose, auf eine grau gestrichene Leinwand drapiert, wird zu einem Signet. Auf dem Flohmarkt gefundene goldene Stöckelschuhe auf einem kleinen Podest mit einem Unterrock daneben lassen der Phantasie des Betrachters freien Lauf. An einer Wand zwei Malereien aus der Ausstellung „Warum Jeremias Gotthelf nie nach Berlin kam“ (2006). Es könnten Berge sein, aber auch zur Seite gedrehte Gesichtsmasken, zwischen Abstraktion und Figuration.

Dahinter befinden sich drei enge Räume (9). Im ersten läuft ein Video. Unter dem Titel „DER IRRE SPRICHT MIT SICH SELBNER UNF FINDET NEU-ARTIGES“  wird ein Projekt dokumentiert, das Urs Jaeggi mit geistig Behinderten in der UNAM (Universiidad National Autónomas) in Mexiko Stadt im letzten Jahr gemacht hat. Die Behinderten malen und zeichnen und schaffen Kunst. Sie und ihre Arbeiten bilden eine Einheit aus kreativen Prozessen. Urs hat sie gefordert und gefunden.
In einem folgenden Zwischenraum bilden blassgrüne Stahlkolosse mit runden Öffnungen eigene skulpturale Formen, zwischen denen kleine schwarze Formenspielereien auf beigen rupfenbespannten Keilrahmen drapiert sind.
Im letzten kleinen Raum ist eine kleine Toninstallation. Zu hören ist Urs Jaeggi mit einem immer wieder unterbrochenen Text und rhythmischen Klopfgeräuschen. Der Titel: „LANGE JAHRE STILLE ALS GERÄUSCH“:

Das gesamte Bauwerk, die Fundstücke, die Raumfolgen und die Verfallsstrukturen bilden mit den Kunstwerken eine soziale Plastik, weniger im Sinne von Josef Beuys, denn als ein Gesamt-Kunstwerk, welches intervenieren will, indem es Fragen nach Lebensgestaltung aus einem jeweils historischen Bezug heraus evoziert. Wohin mit der industriellen Vergangenheit stellt zugleich die Frage nach der Zukunft, was kommt danach ......

In all seinen unterschiedlichen Tätigkeiten ist Urs Jaeggi immer ein politischer Mensch gewesen und geblieben, der gesellschaftliche Zustände analysiert, um über eine konstruktive Kritik zukunftsfähige Ideen zu entwickeln, die den Menschen eine sozial gesicherte Existenz in Freiheit, Gleichheit und frei von Armut und Unterdrückung  ermöglichen sollen. Sein erst vor drei Jahren erschienenes Essaybuch „Die Durcheinandergesellschaft“ zeugt als vorläufig letzte soziologische Publikation davon.

In seinem Buch „Kunst“, erschienen 2002 anlässlich der Ausstellung „I.011 02“ in Neukölln, ein Projekt an dem ich auch mit Urs zusammen arbeiten durfte, definiert er Kunst wie folgt: „Kunst ist Teil des Politischen, ob die Künstler es so sehen wollen oder nicht. Es geht um Sinn. Im Souterrain der Bilder gibt es eine Verwobenheit der Bilder mit dem Traum und mit dem Tod. Die Überlebensgesellschaft, die mit allen Mitteln Selbsterhaltung und Selbstzelebrierung betreibt, ist, wie wir schon lange wissen, gleichzeitig eine gigantische Institution des Todes. In der Vorstufe: als Gewalt, als Hass und als Hoffnung.“

Urs Jaeggi überschreitet in seinen Arbeiten zumeist disziplinäre Grenzen. Er ist nicht nur Soziologe, Schriftsteller und bildender Künstler, sondern er erweitert die jeweiligen Bereiche rahmensprengend und Wechselbeziehungen herstellend, indem er forschend und zugleich frei und assoziativ schreibt und malt und installiert, was er an Bildern, Ideen und Reflexionen in seiner alltäglichen Realität erfährt.

In seinem Essay „An den Grenzen“ aus dem Buch die Durcheinandergesellschaft (Frauenfeld 2008) schreibt er  „Kunstmachende Installateure sind nicht notwendig, sie stellen wie alle Kunst Überflüssiges her. Wir sind Durcheinanderbringer, die das Durcheinandergebrachte  ordnen oder weiter chaotisieren. Ähnlich wie Zeichnen und Malen können Kinder das auch und zum Teil sehr gut.“

Ausloten der Grenzen von Malerei, Zeichnung und Skulptur und die Annäherung an das Absolute Kunstwerk, das, in welchem er sinnlich all das präsentieren kann, was soziale Realität im positiven Sinne verändern kann, das ist offensichtlich ein Ziel, dem sich Urs Jaeggi in seiner Kunst wie in seinem Leben verschrieben hat.

Das retrospektive Zusammensehen der ausgestellten Arbeiten und die vielen Details, die man entdecken kann,  ergänzen sich im Dialog mit den Räumen zu einer Ausstellung. Kunst ist überall, in den Rissen in den Wänden, in den Formen der abbröckelnden Decken, in den übrigen Räumen in den gesammelten Objekte, im Dialog mit den in Räumen verbliebenen Maschinen und Relikten und mit den künstlerischen Arbeiten von Urs Jaeggi.

Abschliessend einige Hinweise:
Zum 80. Geburtstag von Urs Jaeggi wird es zudem eine Ausstellung im Literaturhaus Berlin in der Fasanenstrasse geben, an der ich Anteil haben darf.  Unter dem Titel "Al_pha_be_te" oder:
"Wo bin ich, wenn es mich gibt?" - Eröffnung ist am 16. September - werden Zeichnungen, kleine Objekte und Malerei sowie Installationen und Videos  auf die Räume bezogen eingerichtet oder inszeniert. Ein umfangreiches Programm aus Diskussionen, Lesungen, Musik, Hörspiel und Video wird die Ausstellung ergänzen. Zudem wird das Buch mit dem Titel „grenz über“ zum 80. - eine klassische Festschrift wollte Urs nicht - herausgegeben von Rolf Külz-Mackenzie und Hannes Schwenger mit 44 Autoren im Verlag Stroemfeld Basel/Frankfurt a.M. heraus kommen. 

Danksagungen:
Ich danke der Malzfabrik für die Zurverfügungstellung der Räume, der Galerie Marianne Grob für die Vermittlung der Räume und ihre organisatorischen Leistungen. Dem Kanton Solothurn sei Dank für seine finanzielle Unterstützung.  Meinem Freund, dem Künstler Jovan Balov, sei gedankt für die Überlassung von AV-Technik.
Insbesondere aber möchte ich Christa Frontzeck und Armin Keller danken für Ihre wundervolle, engagierte und kenntnisreiche Arbeit mit Urs und mir. Die beiden haben als Freunde von Urs, die selbst freischaffende Künstler sind, im Team mit mir die Arbeit von Urs begleitet, unterstützt und sich dabei gänzlich in den Dienst des Projektes „Kunst ist überall“ gestellt. Ohne sie wäre das hier zu besichtigende oder auch zu bestaunende Ergebnis, eine Retrospektive der künstlerischen Arbeit von Urs Jaeggi und zugleich diese Auseinandersetzung mit dem Begriff Kunst am Beispiel eines industrie-archäologischen Projektes in der Malzfabrik schwer verwirklichbar gewesen. Ein solches Projekt erfordert keine Handlanger und auch keine blossen Helfer, sondern die gemeinsame aktive Auseinandersetzung mit dem Konzept von Urs. Schliesslich sei noch Graciela Jaeggi Schmilchuk, der Frau von Urs Jaeggi,  für ihre Geduld und Unterstützung gedankt. Sie weiss als Kunsthistorikerin was Kunst- und Ausstellungs-Machen bedeutet.

Abschliessend möchte ich darauf hinweisen, dass das gesamte Gebäude grosse Aufmerksamkeit erfordert, denn es gibt viele Stellen mit Unebenheiten im Boden, herausragende Metallteile und losem Putz, der von den Decken fallen kann. Wir können nicht garantieren, dass bei Unaufmerksamkeit keine kleinen Blessuren entstehen können. Seien Sie daher bitte ein wenig vorsichtig in allen Räumen und Gängen. Und beachten Sie bitte alle Absperrungen. Sie dienen Ihrer Sicherheit.

 

Berlin zum 25. Juni 2011
Rolf Külz-Mackenzie
Kurator

 

 

 

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©  Urs Jaeggi  /  Website:  Universes in Universe  &  María Linares