home  

zurück

 

Begrüßung zur Ausstellungseröffnung
Urs Jaeggi am 16. Sept. 2011


wie viele sprachen brauchen wir
wie viele stunden im hinterhalt
wie viele einbeinige einarmige
zermarterte im kopf kaputte
verfolterte zerdörrte zerhungerte
entköpfte aufzerschlitzte
zerschossene gehängte zerkohlte
zerlochte
die wahrheit der reihe nach
aufsuchen,
vergeblich und trotzdem
Das Gedicht an der hinteren Wand, das wie ein Bildtitel daherkommt, ist Teil
eines Abschnitts oder einer Konstellation dieser Ausstellung mit Bildern,
Zeichnungen und Objekten, die Urs Jaeggi und Rolf Külz-Mackenzie in den
letzten Zehn Tagen in unsere Räume einge-, ja wie sagt man das? Nicht
eingebaut, auch nicht eingefügt, eher schon eingeschrieben, einkomponiert,
eingedichtet haben. Sie haben keine Rauminstallationen geschaffen, sondern
Raumpoesie, eine Poesie, die ihre Bilder, Metaphern, Syllogismen, Fügungen
und Brüche aus unterschiedlichsten Materialien herbeiholt und diese
verwandelnd sich selbst inkorporiert – sehen etwa die zwei mal zwei Zeilen
(ebenfalls an der Rückwand dieses Raumes), die sich auf den zweiten Blick als
getrocknete Bananenschalen erweisen, nicht aus wie Verszeilen in einer
möglichen, uns jedoch verschlossenen Schrift? Wäre dem nicht so, was suchten
sie zwischen buchstaben- und zahlenübersäten Acrylbildern? Sind sie
musikalische Zeichen für die Melodie der Bilder, sind sie Reime auf die
Prosodie ihres Umfelds? Kann Urs Jaeggi sie lesen? Und wenn, warum übersetzt
er sie uns nicht? Er weiß uns doch sonst so viel zu übersetzen und zu erklären.
Kann es sein, daß diese seltsamen Zeichen uns Urs Jaeggi übersetzen? Und
wenn, welchen? Den Soziologen, den Prosaschriftsteller, den Dichter, den
Maler, den Bildhauer? Den etwa, für den wir keinen Namen haben? Den
Poeten? Brauchen wir einen Namen für einen Poeten? Wieso eigentlich, reicht
uns die Poesie etwa nicht?
„alle wörter ändern“ lesen wir als Titel über den Artefakten auf jener Wand.
Und „alle wörter ändern“ ist eine der knappsten und präzisesten Definitionen
von Poesie – hier zur Handlungsanweisung verknappt, zur Aufforderung:
probier es doch mal! Oder aber es ist als Fragment einer längeren Rede dort
stehen geblieben, die weiters besagen könnte, alle Wörter ändern ihren Sinn und
ihr Gewicht, ihre emotionalen Wertigkeiten, schreibt man sie als Gedichtwörter
auf, liest man sie in der Erwartung, sie könnten mehr oder anderes meinen als
sie es gemeinhin tun. Dann hätten wir es mit den Anfangssätzen eines Essays
über Dichtung zu tun. Wir könnten ihn, von Urs Jaeggi angestiftet,
weiterdenken.
Rechts aber an der Wand, von Ihnen aus gesehen links, zitiert Urs Jaeggi
inmitten zweier Gruppen von Zeichnungen Theodor W. Adorno mit dem
adornitischen Hammersatz „Jazz ist keine Musik“ und setzt seine eigene
Behauptung darunter: „Jazz ist mein Leben“.
Und die blindgezeichneten Jazz-Zeichnungen scheinen Adornos Äußerung
ironisch zu bestätigen: Jazz ist keine Musik – jedenfalls nicht nur: Jazz ist auch
Linienführung, Linienverkrümmung und –Verwicklung, staunende
Strichverklumpung und –verhedderung, ist Auf- und Abschwingen, Verweilen –
flüchtig und gehetzt, sind viele künstlich hergestellte Momente der Offenheit,
ist Staunen angesichts dessen, was die Trompete dem eigenen Mund an
unverwarteten, ja unerhörten Tönen entlockt; Jazz, die enthemmte Poesie und
Prosodie der Musik, ist wohl tatsächlich Urs Jaeggis Leben.
Seine Zeichnungen sind Rhythmus und Klang und beredte Groteske, seine
Objets trouvé sind eingedampfte, fast schon in die Abstraktion mündende
Zeichen, seine Blindzeichnungen öffnen dem Zufall ebenso die Tür wie dem
körperlich gewordenen Formgedächtnis – einem Übersetzungsvorgang, wie ihn
Dichter kennen, die Dichter übersetzen: von einer Sprache in die andere, von
einem Zeichensystem ins andere, aus einer Materialität in die andere.
Nicht nur weil Urs Jaeggi seine Bilder und Objekte und Skulpturen und
Textblätter gleichberechtigt nebeneinander und durcheinander montiert hat,
lädt diese Ausstellung dazu ein, sie zu lesen. Auch so ziemlich jedes Einzelstück
dieser Ausstellung scheint erzählen zu wollen oder sich einer Lektüre
anzubieten. Wir können uns, Sie können Sich lesend durch die Ausstellung
bewegen. Und wir werden je nach Leserbiographie verschiedene
Lektüreerfahrungen machen. Aber vielleicht überlegen wir uns beim lesenden
Sehen dieser Text- und Bildräume auch, wie die Ausstellung uns liest:
wahrscheinlich auch je individuell verschieden. Wer sind wir also in den Augen
dieser Ausstellung?
alles ist wie irgendwie gesagt
alles ist nicht und dann doch.
alles ist was irgendwie gesagt
was gerade gesagt wird.
genau so genau. genau.
und dann doch wieder nicht.
und uffä und abä uffä und abä
uffä spurlos verschwundäne
getötete oder in aller
öffentlichkeit die kugel
im kopf. ungesühnt.
das leben überholt das leben
die jahreszeiten, die alles zuführen
und abführen, soll heraklit gesagt
haben
Ich danke Urs Jaeggi und Rolf Külz-Mackenzie für diese schöne, kluge und
vielfach anregende – ja anstiftende Ausstellung, die durch ihre Literarizität nicht
nur wie für das Literaturhaus geschaffen ist, sondern tatsächlich so für das
Literaturhaus entstand. Und ich wünsche Ihnen bei deren Lektüre viele
überraschende Einsichten. Was Ihre Lektüremöglichkeiten beim Besuch der
Ausstellung übersteigen könnte – das in Büchern vorliegende literarische,
soziologische, politische und kunsttheoretische Werk von Urs Jaeggi - haben wir
vorsorglich in die Vitrinen im Foyer eingesperrt

 

.
Ernest Wichner
Leiter des Literaturhaus Berlin
Berlin, 16. September 2011

 

 

 

zurück zu

zurücktexte

zurückausstellung
zurück

©  Urs Jaeggi  /  Website:  Universes in Universe  &  María Linares