Leerstellen und Orte. Humberto Chávez Mayol I In diesem Text möchte ich einige Überlegungen anstellen, eine Art Analyse der Installation Das Schweigen der Wüste des deutschen Künstlers Urs Jaeggi. Die Arbeit zeigt eine Reihe von Räumen, in denen sich die Repräsentation einer Erinnerung konstituiert, eines Rituals, das sich im Kern eines sozialen, geopolitischen und ökonomischen Konflikts herausgebildet hat: die mexikanische Auswanderung an der Grenze zu den USA. Zunächst werde ich meinen Rundgang durch die Installation vorstellen und dabei auf die verschiedenen Bereiche eingehen, in die sie unterteilt ist; dabei gehe ich von der Reihenfolge aus, die sich aus dem Erleben des Betrachters ergibt. Diese Erzählung wird vor allem das Verhältnis der syntaktischen und semantischen Dimension der Arbeit (ihre konstitutiven Elemente und die in ihr enthaltenen Referenzen) heraus stellen. In einem nächsten Schritt werde ich auf Grundlage dieser Information versuchen – ausgehend von den drei Kategorien der Peirce'schen Semiotik – die Funktion eines jeden Zimmers zu bestimmen. Ich schließe mit einer Überlegung zu der pragmatischen Konstellation , die Urs Jaeggi in den verschiedenen Räumen angelegt hat. Man könnte sagen, dass die Installation Das Schweigen der Wüste ein Durchgangsraum ist, eine – ausgehend vom Rundgang des Betrachter – bewegliche Landschaft, die in eine Reihe von Bereiche gegliedert ist, die zusammen eine Narration ergeben. 1. Zu Beginn tauchen einige Alltagsgegenstände auf, die in einem leeren Raum verstreut sind. Der ist ja eigentlich voll von diesen Gegenständen, doch die Leere dominiert vor dem weißen Hintergrund, der sie rahmt, voneinander trennt und sie ihrer Funktion entkleidet, so dass sie zu bloßen Umrissen und modelhaften Ausschnitten werden, Segmente des Verfalls, die an einen Lebensraum erinnern, einen schutzlosen Lebensraum, der seine Dauer mit minimalen Mitteln markiert. Ein Ort schnellen, wenig eleganten Ausruhens: ein paar Decken unter einem zerbrechlichen Dach, ein dünnes Baugerüst, das auf den schwachen Schutz einer instabilen Zuflucht schließen lassen. Ein kaputter Reifen, leere Plastikflaschen, die in der Ecke aneinander liegen, unnatürlich gewordener Müll in der Weiße des Raums. Ein paar Kisten, die auch Bänke sein können oder Tische, auf einer liegen aufgeblätterte Spielkarten, vielleicht eine Art Glücksspiel oder ein unvollendetes Schicksal. Ein Fahrrad lehnt an der glatten Wand und trägt in sich noch den Impuls einer angehaltenen Bewegung, überzogen von Roststreifen. Hemden und ein paar gebrauchte Schuhe, alt und schmutzig, sind die Spur, die dem Leben eines Körpers am nächsten kommt ... Doch alles, was hier ist, wurde zurück gelassen, jemand ist hier vorbei gekommen und hat diese Gegenstände hier gelassen. Körper, die Spuren sind, und Spuren des Körpers konfigurieren dieses erste Zimmer. Ein Ort, in dem Dinge präsent sind, und doch leer, eine Art Widerspruch: die Gegenstände besetzen den Raum und verlangen nach einem Ort, der nicht wirklich sichtbar wird, der sich dagegen sperrt, erkannt zu werden, ein Halb-Ort, präsent und doch unvollständig, an dem die Dinge den Raum nicht wirklich in Besitz nehmen können. 2. Danach öffnet sich der zweite Bereich, der durch hohe Wände in verschiedene Sektionen geteilt ist: es ist der Raum der Wüste. Auch wenn in ihm keine Gegenstände verteilt sind, die den Sinn der Leere unterbrechen, so stehen die Wände doch für drei Formen von Landschaft, die – mittels einer Strategie der Proportionalität – die Erfahrung des Weges konfigurieren: In der ersten abgeteilten Sektion sehen wir an der rechten Seite einen braunen Streifen an der Mauer, eine Route auf Fußhöhe, die sich von Wand zu Wand durchzieht; auf den Seitenwänden kommen dann zwei Segmente desselben Streifens hinzu, diesmal weiter oben angebracht, auf Augenhöhe, Die Besucher erkennen darin eine rätselhafte Form, die das (womöglich zeitlich) ferne Land sein könnte, und die, in dem sie sich vom Boden erhebt, zugleich an Präsenz gewinnt. Auf der gegenüber liegenden Wand entdecken wir, ebenfalls unten, auf Fußhöhe, eine Art Fries, der die Silhuette dunkler Berge auf einem blauen Hintergrund darstellt. Das Schmale dieses Bandes deutet die Beobachterdistanz an, die man mit Blick auf den Horizont hätte; es ist nur ein visuelles Design, aber es lässt auf die Erfahrung einer Figur schließen, die es mit der Weite und der Ferne zu tun bekommt. Sagen wir, der beobachtende Körper entfaltet eine räumliche Projektion, auch wenn die Wand des Museums diese repräsentative Fiktion dann wieder begrenzt. Der bergige Horizont setzt sich auch in dem zweiten Abschnitt fort, um dort an der gegenüber liegenden Wand auf eine neue Landschaft zu treffen. Jetzt sehen wir eine graue Fläche auf der weißen Wand des Saals; große Planen, höher als ein menschlicher Körper, stellen die Grenze des Blicks dar, die Nähe und die Grenze. So groß der Abstand auch sein mag, den man nimmt, man ist immer nah dran und dabei immer blockiert von der Ungewissheit einer Mauer. Diese materielle Begrenzung, die dem Begehren Gewalt antut ... dem Wunsch zu gehen, zu überschreiten, dem Wunsch das Leben zu verändern, getrieben vom Phantasma der anderen Geografien. Das Bild erinnert uns an die Berliner Mauer: grauer Rand, Wunde, Markierung. Eine Spur, die sich wie ein Stoppschild vor einem aufrichtet, wie eine unerträgliche Bremse. In der Mitte des Raums schwankt der Besucher zwischen der Anziehungskraft der Ferne und der Ablehnung der Grenze, eine Syntax, die sich aus der visuellen Wirkung auf den Körper ergibt. Der eigene Körper, der zu den Körpern der Anderen wird, der durch den leeren Raum schreitet; der Raum, der dank der Repräsentation einer detaillierten Erinnerung zum Ort geworden ist, und durch die fremde, inexistente Zeit, die durch das eigene Gehen zur Gegenwart wird. In ihrer Arbeit über die Körperlosen sagt Anne Cauquelin: "Unmöglich, den Ort (topos) von der Leere getrennt zu denken (...) Die Leere wird zum Ort, sobald ein Körper sie besetzt. Der Ort ensteht aus der Leere als dasjenige, das mit einem Mal von einem Körper besetzt wird." Ich möchte mir dieses leere Zimmer vorstellen, das, indem es einen Körper im Transit aufnimmt, womöglich meinen eigenen, dank einer Synthese und grafisch erweiteten Peripherie y gracias a una sintética y expandida gráfica periférica zum Ort eines Konfliktes, einer sozialen Erinnerung wird. Etwas Ähnliches wie diese Lichtanlagen die sich automatisch anschalten, sobald sie eine Bewegung registrieren (nämlich die eines jeden Betrachters). Cauquelin schreibt weiter: "Doch derselbe Ort wird wieder zur Leere, wenn der Körper abhanden kommt". Dies bringt mich dazu, eine zweifache Handlung zu denken: Ich beboachte ein formales Dispositiv, das es mir erlaubt die Leere zu imaginieren, die da ist, wenn ich nicht da bin; zugleich aber, während ich mich in ihm befinde, verweist es mich auf eine vorangegangene Leere, die eines Menschen, der an einem Ort vorüberkam, an dem sich seine Gegenstände aufgelöst haben. Ilya Kabakov sagt mit Bezug auf die totale Installation, dass ein solcher Entwurf über keine Autonomie verfügt, dass sein gesamter Inhalt trügerisch und konstruiert ist, und nur dazu da, vom Zuschauer wahrgenommen zu werden. Dieser Idee zufolge schafft Urs also trügerische Leerstellen für Zuschauer, die mit ihrer Präsenz die Leere der Anderen spüren. 3. Im dritten Bereich kehren die Strategien sich um, nun finden wir eine Gegenwart vor, die an die inexistente, stehengeliebene Zeit erinnert. Ein schweigsamer Kasten des Gedenkens, der aus den Wörtern entsteht, die als Hunderte von Namen die Leere der Körper und das Bewusstseins ihres Verschwundenseins zusammen setzen. Vier Streifen, vier hohe aus Namen gebildete Säulen, Wörter, die das verkünden, was sich vom Schweigen ausdrücken lässt. Zwischen all den Namen ein weitere Benennung: "Migranten, an der Grenze ums Leben gekommen zwischen Janaur 1995 und September 2004." Zum Schluss der stillen Lektüre lesen wir, als eine Art Signatur: "Und ungefähr tausend nicht-identifizierte Migranten". Die zur Säule gewordenen Namen setzten sich auf dem Boden des Raums fort, hier werden sie zu langgezogenen Grabhügeln für segmentierte Zeiten, Namen und Wörter, die zu Tausenden von Steinen wurden, Hügel aus Erinnerungen, so verschieden und doch so gleich. Es ist der Stein, das sinnlose Schweigen, das von der Materie zur Form zurückkehrt, und von der Form zur Stimme. Der Raum ist gedenkendes Schweigen, aber er ist auch der Präambel für einen letzten Abschnitt: ein kleiner Türbogen in der Mauer, die parallel zur Namensplattform verläuft, führt uns zu einem kleinen Zimmer ... und ja, von der Form zur Stimme: zwischen Bildern, die die unglückselige Reise der Migranten dokumentieren, breitet sich ein Gedicht aus, alle gleichen Buchstaben vereinen sich und verdoppeln in ausgesuchten Worten. todas las mismas letras se unen y se desdoblan en filtradas palabras, die mit dem Schweigen sprechen, die erinnern, empfangen und anspornen. Gezeichnete und geschriebene Worte, die sich über das dokumentarische Schwarz-Weiß der Fotografien legen: Welcome my son. Auf der linken Wand dieses letzten Raums wird ein Video projeziert: die Bewegung setzt dieses Fließen wieder in Gang, dieses Spiel der Verwandlung der Bilder, das die mobile Dimension einer lebendigen Erinnerung ins Bewusstsein ruft. So etwas wie jener schmerzliche Raum, den wir, in seiner Unverständlichkeit, seiner Leere, seinem erinnerbaren und zugleich nicht erinnerbaren Schweigen, Zeit nennen werden. II Erstens ist die Konzeption des Seins [...] unabhängig von allem anderen. Zweitens steht die Konzeption des Seins im Verhältnis zu etwas Verschiedenem. Drittens, die Konzeption der Vermittlung, mittels derer die erste und zweite ins Verhältnis zueinander gesetzen werden. Ausgehend von diesen Kategorien konstruiert er alle Kartografien, die auf dieser semiotischen Dreiecksbeziehung beruhen. Sie zu verstehen, bedeutet, zwischen dem emfindsame Erleben, dem Glauben an die Realität und dem argumentativen Prozess, der dem Wissen eine pragmatische Gültigkeit verschafft, unterscheiden zu können. In der Buch-Installation Tiempo Muerto (Tote Zeit) stelle ich, ausgehend von diesen Peirce'schen Konzepten, drei Ebenen eines zeitlichen Bewusstseins vor, die erklären könnten, wie wir uns mit der Erfahrung künstlerischer Installationen konfrontieren. Diese sind: Die Ebene der Sensibilität, die der ersten, qualitativen Zeitebene des Erlebens entspricht, eine Gegenwart ohne Erinnerung: ich fühle, ohne mich zu erinnern oder mir eine künftige Zeit vorzustellen.
Wenn wir diese Ideen auf das Schweigen der Wüste übertragen, können wir feststellen, dass diese drei Ebenen eines zeitlichen Bewusstseins klar in den drei Bereichen der Installation unterschieden sind. Der erste Bereich, der Saal voller Spuren-Gegenstände, bietet eine Landschaft der zweiten Zeitebene. Auch wenn man hier das Gefühl hat, dass die Dinge nicht wirklich ihren Raum in Besitz nehmen, so hat das damit zu tun, dass diese Gegenstände eine flüchtige Vergangenheit erinnern, was uns dazu führt, einen realen Raum zu erkennen: den der Verlassenheit. Im zweiten Bereich kommt es zur Begegnung mit der ersten Zeitebene. Auch wenn sie die Erinnerung des Erlebens anderer Menschen voraussetzt, so funktioniert diese Referenz nur über die physische Handlung, die eigene Erinnerung zu löschen, um zum Anderen zu werden oder um die Erinnerung eines inexistenten Körpers zu leben. In jedem Fall hat der Ritus eine die Grenzen verwischende Färbung, die eher auf das Empfinden denn auf das Gedächtnis abzielt. Es ist die Leere, die ihren Raum einnimmt im Bereich der Empfindungen. Der dritte Bereich ist, so können wir sicherlich sagen, ein Mahnmal. Es ist eine dritte Zeitebene, die eine Erwartung der Transformation und des politischen Bewusstseins anstößt. Hier sind es Wörter, also die Namen, die die Wände besetzen und die Pfade aus Steinchen, die territoriale Narben herauf beschwören. Hier ist es eher der Autor als der Zuschauer, der eine projektive Antwort gibt: das Gedicht, die fotografischen Bilder und das Video beharren darauf, das buchstäbliche, formale wie aktive Bewusstsein von einer lebenden Zukunft zu sein. III. Bislang habe ich Überlegungen angestellt über die Routen des Bewusstseins, wenn es sich auf den Weg durch das Schweigen der Wüste macht: vom Realen zum Möglichen, vom Möglichen zum Notwendigen, vom Fakt zur Qualität, von der Qualität zum Gesetz. Zum Ende möchte ich nun auf einen Zweifel eingehen, der mich in letzer Zeit die diskursive Position der Teilnehmer einer Installation überdenken ließ. Der Rundgang durch den Raum ermöglicht somit das Erkennen des Gewohnten, das, was schon einmal erlebt worden ist, zugleich aber, an der Bruchstelle der Sinnproduktion, auch das Entdecken des eigenen Unsagbaren innerhalb des Universums des Betrachters. In Bezug auf das Feld der Erfahrung frage ich mich, ob alle Räume einer Installation die gleiche zentrale Partizipation des Betrachters beibehalten. Am Beispiel der Arbeit von Urs: Dort ist es der zweite Bereich von Das Schweigen der Wüste, in dem der Betrachter den größten Teil der Arbeit verrichtet, indem er das Erleben und Empfinden eines Anderen zu erfassen versucht, über das Hin- und Hergeworfensein in der Landschaft. Im ersten Bereich sehe ich es anders: dort sehe ich mich mit den Spuren der Anderen konfrontiert, und ihre Verlassenheit lässt mich nicht weiter als an die mobile Physis der Migranten denken. Und wenn ich durch den letzten Raum gehe, stelle ich mir nichts anderes vor als die Stimme des Autors, der poetische Kreise zieht, in denen Worte und Formen einer intimen Reflexion verwoben sind, eine Art Altar, der dargeboten wird Wir können also sagen, dass in dieser Installation die Figuren – Migranten, Zuschauer, Künstler – je nach Raum unterschiedlich wichtig sind. Unabhängig von der physischen Präsenz, die ja zumeist nur der Besucher hat, ist der Migrant in dem ersten Raum präsent und der Zuschauer nimmt seinen Ort mit der gegebenen Distanz zur Kenntnis. Im zweiten Raum nimmt der Zuschauer die Position ein, die durch die Proportionen der Landschaft konfiguriert wird: er wird zum Gespenst des Migranten. Im dritten Raum befindet sich der Autor, um die Figuren in dem Akt des Gedenkens zu dirigieren, der den Sinn dieses Gangs abschließt. In einem Gespräch mit Urs Jaeggi äußerte ich mein Befremden darüber, in dem kleinen Raum mit den Bildern und dem Gedicht eine Ausgangstür vorzufinden. Denn das war für mich der finale Raum, der Abschluss, die intime Reflexion des Autors. Ich wäre lieber denselben Weg zurückgelaufen als mit dem Sinn dieser Anordnung zu brechen, indem ich seitlich hinausging. Da hat er mir glücklicherweise erklärt, dass er diesen Raum völlig geschlossen entworfen hatte, aber dass er ihn wieder öffnen musste, weil die Vorschriften des Museums über Unfallprävention keine Räume ohne einen Ausgang in der Nähe erlaubten. Während ich diesen Text schrieb, entdeckte ich neue interpretative Nuancen, die wiederum neue Orte und Erinnerungen schufen. So, als ob die Erinnerungen des Körpers und die Wahrnehmung sich verändern, sobald sie mit dem Nachgeschmack vergangener Empfindungen zusammen treffen. In diesem Moment sehe ich mich wieder im dem Raum der Mauer und der bergigen Landschaft, und was mich erstaunt, ist, dass die Position der beiden Formen an der Wand (nachdem ich nun den gesamten Rundgang kenne) mir anzeigt, dass ich mich auf fremdländischem Territorium befinde und dass ich vor mir nur das Ritual des Todes habe und hinter mir die Erinnerung der Verlassenheit (diese Sequenz gefällt mir nicht, sie ist zu dramatisch). Jenseits der Mauer, auf der linken Seite, muss der Hof des Museums sein, wo, wenn man dem Traumbild folgen will, sich die mexikanische Wüste befindet, und von dort aus sähe man die Mauer von der anderen Seite, wie sie ich mir immer vorgestellt habe ... Ist das dann womöglich der Rand des Eigenen? |
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Jaeggi / Website: Universes in Universe & María Linares |