Im Hinterland des Lebens
Urs Jaeggi erfindet sich im Roman «wie wir» noch einmal als Autor
Samuel Moser
Fast zwanzig Jahre hat Urs Jaeggi keine literarischen Texte mehr publiziert. Seit seiner Emeritierung pendelt er als Bildhauer und Maler zwischen Berlin und Mexiko-Stadt hin und her. Ist «wie wir» ein nachgereichtes Spätwerk also? Mitnichten! Während andere noch einmal zum Griffel greifen, um sich an ihren Erfolgen zu wärmen, begibt sich Jaeggi in ungesichertes Neuland. Nur Frisch und Dürrenmatt haben sich in ähnlicher Weise als Autoren noch einmal neu erfunden. Jaeggis Buch hat nicht das an Erfahrungen reiche Leben eines bald Achtzigjährigen geschrieben. Es ist Leben: vital, zärtlich, rebellisch, nachdenklich, bildstark und luzid. Kopf und Bauch haben ihren Frieden noch längst nicht gefunden. Aber es gibt in der verwirrenden Polyfonie dieses Buches auch eine Stimme, die mit dem Unreinen ins Reine kommt. Die sich einmischt und doch gelassen bleibt. Nicht triumphierend, sondern immer mit dem leisen Unglauben, dass so etwas überhaupt gelingen könne.
Drei Teile eines Bildes
Das Buch trägt die Gattungsbezeichnung «Roman», was angesichts der drei inhaltlich und formal sehr unterschiedlichen Texte erstaunt. Immerhin verweist sie darauf, dass das Buch im Zusammenhang gesehen werden soll. Die drei Texte sind drei Teile eines Bildes. Um mit dem letzten zu beginnen: Er ist vielleicht der rätselhafteste, obwohl formal relativ klar umrissen. Eine negative Utopie, die düstere Vision einer ans Ende gekommenen Gesellschaft. Der Titel erinnert an den späten Dürrenmatt: «Beobachter der Beobachter der Beobachter». Menschen verharren wartend, aber ohne Hoffnung in einer Landschaft aus öden Flächen, Hügeln und Meer. Irgendwo ragen zwei Türme aus dem oder in den Boden, die später immer wieder explodieren, ohne dass ihnen etwas geschieht. Ob es darin Leben gibt, bleibt ungewiss. Sie haben unterirdische Zugänge, aber niemand weiss etwas.
Die Menschen teilen sich in «Dünenhocker», «Herumlungerer», «Herumstehende», «Überleber» und «Schnüffler» (die Beobachter), die ihrerseits wieder beobachtet werden von ihrerseits beobachteten Beobachtern. Berichte aber sind unerwünscht. Es gäbe wohl auch gar nichts zu berichten aus einer reellen Virtualität. So anschaulich allerdings diese Parabel auch wird, so abstrakt und spekulativ bleibt sie doch im Ansatz. Davon sind die beiden anderen Texte weit entfernt. Sie sind, wie es die Galeristin im Text «outback» von den Bildern sagt, einfach da. Nicht als Resultate von Erfahrungen, sondern als primäre Erfahrungen.
Die Galeristin sieht vielleicht mehr, jedenfalls anders als andere. Sie ist blind seit einem Unfall, bei dem sie der Erzähler kennengelernt hat. Diese Geschichte kommt ihm jetzt in den Sinn, da er im Zug sitzt von Perth nach Sydney durch eine Gegend, die die Australier «outback» nennen. Er gibt seine Geschichte, die noch nicht abgeschlossen ist, zu Protokoll. Zwei, drei Tage vor der Abreise aus Perth lag er noch im Spital. Er dürfe nicht reisen, sagte ihm die Galeristin, die plötzlich an seinem Spitalbett sass (so wie auch er plötzlich an ihrem Spitalbett gesessen hatte). Später, wenn er in Sydney angekommen ist und ein neues Leben als Strassenkünstler beginnt (statt an einem Kongress einen Vortrag zu halten), ist sie ebenso unerwartet wieder da, eröffnet in der Nähe seines Standplatzes eine Galerie.
Zeiten und Räume sind nicht gerade ins Chaos gestürzt, sind aber doch in einer anderen Ordnung, seit der Erzähler am Abend vor der geplanten Abreise von einem Verrückten mit einem Messer schwer verletzt worden ist. Aber es ist diese Todeserfahrung, die ihm die Grenze öffnet nicht nur ins «outback» Australiens, sondern auch ins Hinterland seines Lebens. Der Zug, den er besteigt, ist der unwiderstehliche Lebenszug. Wie in Trance (als er noch ein Kind war, brachte er sich durch Wippen in ähnliche Zustände) geht er einen Weg, der ihn von sich weg und zu sich selber führt. Auf diesem Weg ist er Jäger und Gejagter, Ausreisser und Rückkehrer zugleich. Seine Perspektiven (die des Erzählers!) brechen auseinander und finden in ihrer Reziprozität zu einer neuen Identität.
Eine wortlose Welt
Nochmals packender, nochmals weiter vorangetrieben ist diese Erregung im glanzvollen Mitteltext des Buches: «Vol Terra». Die Stadt in der Toskana ist der Kristallisationspunkt, um den sich bald exzentrisch, bald konzentrisch alles dreht. Das Pendant zu den Türmen im dritten und dem Spital im ersten Text ist eine im Zug der Anti-Psychiatrie-Bewegung in den sechziger Jahren aufgelassene Irrenanstalt. Nur die Irren sind noch da. Narren auf verlorenem Posten. «Tiere» nennt sie die Krankenschwester. Meist sitzen sie draussen. Einer trifft sich täglich mit einer Frau, mit Miri. Ein wundersam lebendiges Paar, in einem Kontext dialogisierend, der uns verborgen bleibt. Wir sehen nur, dass er sie trägt.
Der Erzähler schaut zu und hört hin mit dem unerfüllbaren Wunsch, dazuzugehören und in diese Welt vorzudringen, in die «keine Erklärung eindringt». In eine wortlose Welt der Offenheit: «ich müsste mich nicht mehr hinter meinen eigenen Worten verstecken, sie mir anziehen oder anderen anzuziehen versuchen.» Ist es ihm doch gelungen? Oder einfach passiert? Miris Freund wippt mit dem Körper. Ist er der Mann, den wir aus dem «outback» kennen; der Mann, der sich an sich als wippendes Kind erinnert? Die Krankengeschichten liegen in der aufgelassenen Anstalt von Volterra zerfleddert und vermodert am Boden. Urs Jaeggi rekonstruiert sie nicht. Auch er dringt nicht ein mit Erklärungen in eine Welt jenseits von Fragen und Antworten. Vol Terra, Stadt der Irren und Vögel zwischen Himmel und Erde, Traum und Wirklichkeit.
Van Goghs Krähen ähnlich, warnend, lockend, auffliegend, herabstürzend, kakofonisch an- und abschwellend, sich formierend zu unbegreiflichen Ordnungen. So überlagern sich die Sätze, Stimmen, Töne und Bilder in Urs Jaeggis Text. Offenheit ist Form geworden. Die Form, die er als Universitätslehrer als sein einziges Unterrichtsziel erkannt hatte, wie er in «outback» zu Protokoll gibt. «Vol Terra» ist ein verwirrend schöner «Canto». Verwirrend, weil wir nie wissen, wo wir sind. Schön, weil wir uns selber in dieser Verwirrung zu Traumgestalten werden, verloren und «bei uns» wie die Irren und die Vögel von Volterra.
1 Oktober 2009, Neue Zürcher Zeitung
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