Marleen Stoessel
OHNE PREIS
"Fotomalen" nennt der mittlerweile 87-jährige Urs Jaeggi die Bilder, die er unter dem Titel "Entgrenzen" erstmals in der Galerie Carpentier ausstellt. Doch Jaeggi, der Soziologe, Professor, Schriftsteller und bildender Künstler in Personalunion ist und dessen letzte Berliner Ausstellung vor zwei Jahren als große Retrospektive in den feuchtkalten, von Röhren und Restapparaturen durchzogenen Kellerräumen der ehemaligen Malzfabrik stattfand, bliebe nicht sich selber treu, wenn er nicht auch diesmal die alten Fragen mit neuer Radikalität stellte: Was ist Kunst? Wo zeigt sie sich? Wer ist Künstler? Wer darf sich so nennen? Was ist der Wert eines Bilds? Wer bestimmt seinen Preis? Und gibt wie stets seine Antwort in dem, was er zeigt. Und wie er es zeigt.
In zwei Räumen der auf zeitgenössische Fotokunst spezialisierten Galerie von Manfred Carpentier sind 33 Fotowerke zu sehen, das heißt mehr oder minder starke Übermalungen von Fotos, die großenteils in Mexiko, wo der Künstler halbjährig lebt, entstanden sind - locker geordnet nach Orten und Themen, die ihrerseits den Orten entspringen. Dieser Ort der Kunst aber ist für das Schweizer Mulititalent überall, ist das weite Feld, die Welt, wie sie uns umgibt, grenzenlos, so wie es für Jaeggi auch keine Grenzen in der Form der Betätigung gibt: Feldforschung im buchstäblichen Sinn, die den Soziologen mit dem Wort- und Bildkünstler, das Analysieren und Reflektieren mit der schöpferisch-poetischen Kraft widerspruchslos eint, ja das eine im anderen zu steigern vermag.
Diese Welt hat keine Grenzen, weder in die Weite, noch im Blick hinab. Mehrere Bilder zeigen farbige, nur geringfügig übermalte Aufnahmen des Atelierbodens, die manchmal an abstrakte Malereien von Miró oder des Fluxus erinnern, vor allem aber eine Feier des Zufälligen, zufälliger Sinnbezüge sind, in denen sich auf paradoxe Weise das objektiv Gegebene in der radikal subjektiven Wahrnehmung des Künstlers förmlich erst erzeugt: Eine Farblache am Boden deutet etwa die Form eines Vogels an. Oder alte Farblappen haben sich zu einer sinnlichen Plastik verknäult, zu einer ihre üppige Blüte wie soeben überschreitenden Rose, lustvoll überquellend in ihrem Farbrausch, von dem diese ollen Lappen nun, nach getaner Arbeit, träumen mögen. Dieses Bild, bereits Blickfang damals in der Malzfabrik, ist das malerischste der Werke, die Schwarz-Weiß und Farbe im Wechsel zeigen. "Wo bin ich?" lautet der kindlich-heitere Titel, der, wie alle Titel, das Bild zugleich auch mit der poetischen Wortkunst des "Fotomalers" verknüpft.
"Kunst ist überall", so Jaeggis Devise (wie auch der Titel eines seiner Bücher), er braucht nicht zu suchen, sondern nur um sich, über oder unter sich zu schauen - alles ist da. Das Sonderbare, Abseitige, Verworfene, das Verstörende und Unpassende - alles ist würdig, aufgenommen, festgehalten, in seinen Spuren, die es zeigt, aufgelesen und gelesen zu werden. Und nur die Form der "Lektüre" bestimmt die Art des künstlerischen Eingriffs: die Auswahl des Ausschnitts, das Nachziehen, Herausheben einer schon vorhandenen Linie oder Kontur, das Fortzeichnen einer Form oder das Setzen eines Kontrasts. Steine wie Köpfe, ob Tiere oder Menschen, geisterhaft, dämonisch, je nach Augenbewegung des Betrachters in ständiger Verwandlung. Oder nur der Blick auf die ungewöhnliche, womöglich absurde "Collage", welche die Realität immer wieder selber bietet. In einem der stärksten Bilder klafft in einer maroden Betonmauer ein ovales Loch wie ein Auge, oder eher noch wie ein geöffneter Mund. Bei näherem Hinsehen erkennt man, dass es ein kleines Fenster mit zerbrochenen Scheiben ist, hinter dem man ein Stück einer Backsteinwand erkennt. Und oben auf der Mauer ragt ein spärliches Pflänzchen hervor, als wäre es ihr zum Trotz dort entsprossen.
Diese Form der Wahrnehmung ist jener Duchamps und der Surrealisten verwandt, doch wie sehr auch Jaeggi immer wieder dem "objet trouvé" und all dem Zufälligen huldigt, gibt es einen entscheidenden Unterschied. Wo die Surrealisten programmatisch die Dinge zu traumhafter Konstellation fügten, zeigt Jaeggi gleichsam den Traumzustand der Realität als solchen. Sucht in ihr, den Orten und Dingen selbst, ihren Beschädigungen, verrottenden Resten, ihren Schrecken und Wunden, aber auch ihrer unvermuteten Grazie - sucht in all ihrem dystopischen Dasein ihre verlorene, mögliche Schönheit, die Spuren einer Utopie. Die darin besteht, dass sie da sind und dass dies einer, der Feldforscher, Poet und Künstler in einem ist, wahrnimmt, festhält, erkennt.
Folgerichtig gerät mit der subversiven Sicht auch die Streetart in den Blick, ihr innovatives, ebenso kritisches wie kreatives Potential, das allzu lange sträflich behandelt wurde und erst spät mit Jaeggis berühmtem Landsmann Harald Nägeli museums- sprich salonfähig wurde. Und welcher der Künstler hier mit fünf großen Aufnahmen huldigt. Was auf die Eingangsfragen nach Wert und Preis von Kunst zurückführt. Alle Kunst aber hat, dies zeigt Jaeggi mit neuer Eindringlichkeit und Konsequenz, allein ihren Wert in sich, als ein, wie er einmal schreibt, "kultureller Wert, der quasi gratis erschaffen wird". Als ein sich jedem Kalkül entziehender Überfluss, der, seit Menschen in Höhlen die Wände bemalten, pure Verschwendung ist. Als solche ist Kunst immer ein Geschenk an die Menschheit, sie hat keinen Preis. Jeder Preis ist eine Fiktion.
Jaeggi, der dank seiner Professorenpfründe nicht sein Brot damit verdienen muss, nutzt diese Unabhängigkeit und Freiheit und setzt sie hochbewusst und kritisch ein, unterläuft auch diesmal den Kunstmarkt mit all seinen zynischen Exzessen - und sorgt einmal mehr für eine Überraschung: diese Bilder "kosten" nicht! In dieser Ausstellung - auch dem generös mitspielenden Galeristen gilt Dank! - bestimmt allein der Besucher den Preis, das heißt, was er nach seinem Vermögen für den Erwerb eines Werks bezahlen möchte und kann. Ein relativer, subjektiv gesetzter Wert, der absolute wäre nicht bezifferbar. Etliche rote Punkte zeigen an, dass mehrere Besucher mit Käufen zwischen 5o und 1ooo Euro bereits zugeschlagen haben. Auch hier gibt es in keiner Richtung eine Grenze. Kein Preisschild, kein Feilschen, kein Handeln.
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