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Thea Herold


Manierlich VORgeTRAGEN beim "Sehen und Denken"

Am 14. Juni 2004 in Berlin

Oder
Warum ohne Leute wie Urs Jaeggi solche Leute wie ich zu Verrückten erklärt werden müssten
Oder zu Chinesen


Das meiste Gerede ist Mist. Sagte mein Vater öfter. Und er sagte wenig. Kein Wunder also, dass Leute wie ich, wenn sie auf dem Land aufwuchsen, also richtig auf dem Land, wo man höchstens am Biertisch das Reden macht, aber sonst nicht viele Worte, am Anfang die Buchstaben wie Bilder ansehen und das schon mal Lesen nennen, in aller Unschuld.

Dann ist W ist M auf dem Kopf
Und E ist W wenn es schläft
Und O ist ein A nach dem Essen
Und ein N ist ein M ohne Schluss
Ein kleines a kann aber auch ein kleines g
Sein wenn es rutscht
Oder ein O wenn es fliegt in der Luft oder ein E wenn es verfitzt oder klebt
Jedes Wort wird ein Tier
Wenn ich es jage auf dem Blatt macht es Ton und Geräusch
Es steht nie schön
Auf dem Strich
Wie es soll
Weil
Es geht
Oder rennt
Meistens schmiert
Oder läuft oder fließt
Oft verhakt wie bei K dem sich nie seine Schleifen binden
So dass es immer rumsteht wie ein H
Es sieht immer anders aus als gut
Ich schreiben will nie
Lernen es ist
Sowie so
Nie richtig
Nie

Trotzdem hat mir mein Vater das Lesen in seiner Werkstatt beigebracht, nebenher zwischen dem Amboss und Hammerschlägen.
Ein bisschen Rhythmus musste die Sache deshalb schon haben. Und Texte, die keinen Schwung hatten, und Texte, die allzu ausgedacht klingen, und Texte, die ihn nicht unterhielten, die wollte er nicht hören.
Das war, wenn man so will, seine Art von Literaturkritik.

Urs Jaeggis Texte hätte ich ihm sicher gern vorgelesen, weil sie nicht ausgedacht klingen, Rhythmus haben und außerdem unterhalten. Ich hätte ihm vorher noch erzählen können, und auch das wäre meinem Vater sehr interessant vorgekommen, dass sich jemand wie Urs Jaeggi mitten im Leben hingesetzt hat, um das Schweißen zu lernen und das Umgehen mit schweren Stoffen und das, obwohl er eigentlich davon gar nichts versteht. Weil er bis dahin eher nur mit Worten hantiert hat.
Das nannte er WORTEN
Und eben so hätte ich meinem Vater damals beschreiben wollen, was ich so vorhabe, denn das Schreiben als Sache war ihm gelinde gesagt suspekt.

Aber hätte er gewusst, dass jemand wie Urs Jaeggi immer auch darauf geachtet hat, dass Wind, Wasser, Sand, Eis, Klang und sonst generell das LEBEN in den Worten, mit denen er die Welt beschreibt, eine Rolle spielen -
und nicht nur leblose Buchstaben
hätte er der Sache vielleicht was mehr getraut.
Denn ohne solche Leute wie Urs Jaeggi wären Leute wie ich Verrückt geworden oder zu Chinesen. Weil die ja bekanntlich bis heute die Bilder aus dem Leben in ihren Buchstaben erhalten und lieben und sie auch so schreiben und das auch von Hand tun. Bis heute trotz Computer.

Sie lassen sich dabei ganz einfach Zeit.
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©  Urs Jaeggi  /  Website:  Universes in Universe  &  María Linares