Border
Berlin
June 2009
Kampfplätze
In Deutschland gibt es insgesamt etwa 860.000 Obdachlose. Diese Zahl setzt sich aus 591.000 Menschen ohne mietvertraglich abgesicherten Wohnraum und 269.000 wohnungslosen Aussiedlern zusammen. Diese Zahlen sind Schätzungen und in keiner Bundesstatistik erfasst (lediglich Nordrhein-Westfalen führt seit den 60er Jahren eine Obdachlosenstatistik).
In den USA sind 2.3 bis 3.5 Millionen Menschen obdachlos.
Während es Millionen Kindern, Familien und Kriegsveteranen es allen an dem Grundbedürfnis für ein Dach über dem Kopf mangelt, gibt die US Regierung jede Sekunde des Tages $5'000 für den Krieg im Irak aus.
Die Mondialisierung schien für das Kapital leichter beherrschbar, notwendig und (obwohl es kritische und vernünftige Gegenanalysen gab) unlimitiert und weitgehend unkontrolliert wachsend. Niemand wollte die wachsende Kriminalisierung wahrnehmen. Nicht ein paar Übermütige oder Unbedarfte haben zu hoch gereizt; gemeinsam wurden beim Gewinnen Milliarden verspielt, aus Sucht und Dummheit. Die politische Reaktion kam nach dem Zerfall rasch. Die Politiker gehorchten hastig einem Imperativ, der keiner war. „Der Staat als letzte Instanz, die handeln kann. Und nicht die Banken, sondern die Bürger gelte es dabei zu schützen“ (Bundeskanzlerin Merkel).
Verwirrter Postkapitalismus trifft unausgegorenen Postsozialismus. Der Schutz der Bürger besteht vorwiegend in künftigen Schuldenlasten. Was fehlte und fehlt sind weniger exaktere Prognosen (die es nicht gibt), als Einschnitte, die nicht nur Billionenlöcher der Banken und Grossunternehmen stopfen. Das unverbindliche Palavern über die notwendige Verschärfung der Kontrollen im Finanzmarkt, und die Uneinigkeit über das Wie, kann man mit Recht als Beschwichtigungspolka einstufen. Wursteln. Die Stunde der Pragmatiker. Die Systemkrise auf eine Finanzkrise reduzieren und das Desaster als Chance aufmöbeln. Keine bad bank, das wäre zu schamlos, aber gnadenloses Verschieben der Schulden nach hinten und am Schluss dann doch die bad bank. Die geplatzte Blase durch eine neue ersetzen.
Markt muss sein, aber wie organisiert? Ist es zum Beispiel sinnvoll (fast allen Banken) zu helfen und wenn nötig allen Autofirmen? Stützung des Schul- und Bildungssystems dagegen fast nur mit Kosmetik der Außenfassaden und Innausstattung, ohne personell zu helfen, ohne gescheite Maßnahmen, welche die Chancengleichheit voranbringen.
Keine Maßnahmen, um die Arbeitslosen nicht länger in ein überbürokratisiertes, demütigendes und unübersichtliches Beihilfeprogramm zu zwängen.
Keine Maßnahmen, um den unter dem Existenzminimum Lebenden bis zu den prekär situierten Arbeitern und Angestellten ein existenzsicherndes Grundeinkommen zu geben. Es wäre eine nicht nur sozial, sondern auch ökonomisch sinnvolle Lösung, und das eingestandene Ende der Illusion, es gebe für jede und jeden Arbeit. Die Einsicht auch, dass industrielle Arbeit nicht das Maß der Dinge ist.
Wir sind eine borderliner Gesellschaft, die ums falsche Überleben kämpft, und Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung für veraltete utopische Momente hält.
Die Krise als Chance? Für wen?
Wird hier der Rahmen eines Kunstprojektes eine Zuständigkeitsgrenze überschritten?
Die Kunstschaffenden selber fordern den Diskurs nach draussen, beteiligen sich an ihm, um neue Formen des Ästhetischen zu suchen. Einer der Gründe, warum der immer stärker geforderte interdisziplinäre Diskurs prekär und verletzlich bleibt, ist nicht nur gegenseitig mangelnde Kompetenz. Weil die Kunst wie die Philosophie kein eigenes Terrain haben bleibt vieles, ohne deswegen notwendig an Bedeutung zu verlieren, fragil, zerbrechlich, immer häufiger auch ephemer. Aber auch relevanter. Es gibt kein Ausweichen vor der Frage was Kunst überhaupt soll in einer Welt, in der Millionen ums Überleben kämpfen und Hunderttausende diesen Kampf verlieren.
Urs Jaeggi
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