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Immer etwas ferner
Text der Kuratorin Rosa Martínez
(Presseinformation der Biennale von Venedig)

Der Titel der Ausstellung im Arsenale di Venezia ist einem Büchlein von Corto Maltese entnommen worden, dem vom venezianischen Schriftsteller und Bildstreifenzeichner Hugo Pratt erfundenen Abenteurer. Pratts Dichtungen haben Corto Maltese zu einem Mythos erhoben: er stellt nämlich den romantischen und unabhängigen Reisenden dar, der dem Schicksal nicht entweicht und jedes Risiko eingeht, der alle möglichen Grenzen überschreitet, um der eigenen Zukunft Herr zu werden.

Wenn man sich für eine Ausstellung von einer erfundenen Figur inspirieren lässt, so muss man zur Behauptung schließen, dass der Kunst die Konstruktion einer imaginären Welt zugeschrieben wird und dass man durch die Phantasie unsere Wirklichkeit besser verstehen kann. Das barocke Zeitalter, in das wir leben, zwingt uns in einer paradoxen Konfliktsituation: wir glauben weiterhin an die Notwendigkeit der Vernunft, der Abbildung und der Utopie, doch sind wir zur selben Zeit durch die postkolonialen Rassen- und Gattungsüberzeugungen dessen schärfste Kritiker geworden. Leidenschaft und Melancholie, Vertrauen und Verzweiflung, Lust und Schuld führen uns eng beisammen im kritischen Annäherungsversuch an die Realität.

Kunst ist ein Kampf innerhalb einer symbolischen Wirklichkeit, darum sind jene Künstler am bedeutendsten, welche durch ihre Schöpfungen neue Wege der sprachlichen, sozialen und ideologischen Transformation bahnen. Die Autonomie der Kunst in Frage stellen und die Ästhetik ins Alltag bringen sind Teil eines andauernden Prozesses, der durch die Ausbreitung der Grenzen und die Erweiterung des Horizonts die vorgegebenen Modelle überholen will. Der Abenteurer, der Philosoph, der Wissenschaftler, der Künstler sowie der Veranstalter einer Ausstellung suchen ununterbrochen neue Gebiete und neue Gelegenheiten zum Denken. Es ist sehr schwierig eine solche Aufgabe zu erfüllen, wenn man in einer Gesellschaft lebt, wo die Ideen, die Menschen und die Waren mit extremer Geschwindigkeit umgehen, wo der Künstler nie aufhält und sich unter der Menge tarnt, wo die Kulturinstitutionen gleichsam einer Franchising-Industrie vorgehen, wo das Marketing zur einzigen und besten Vorgangsmethode erhoben wird. Darum gehört es sich zur Arbeit eines guten künstlerischen Leiters, dass er im unaufhaltbaren Informationsstrom den Lärm mindert, den Sachen Wert beimisst und daraus folgerichtige Diskurse aufbaut, wodurch deren Bedeutung hervorgebracht wird.

Der Verkehr ist ein wesentlicher Begriff der gesellschaftlichen Entwicklung: im Zusammenhang mit sozialer, politischer aber auch sexueller oder expositiver Wirtschaft hat Verkehr mit Bewegung und Austausch zu tun. Übersetzung und Interpretierung sind dementsprechend essentielle Passagen im interkulturellen Verkehr, vor allem bei weltweiten Ausstellungen wie die Biennale. Dank ihrer hundertjährigen Geschichte ist die Biennale di Venezia zu einem der bevorzugten Epizentren zeitgenössischer Kunst geworden, weil hier Künstlern aus verschiedenen kulturellen und geopolitischen Kontexten die Möglichkeit gegeben ist zusammenzukommen.

Die Kunst-Biennale ist somit eine einzigartige Gelegenheit, um neue Formen der Annäherung zwischen Künstlern, Disziplinen und Besuchern zu gestalten, da am Beispiel Biennale der Begriff der Internationalität und die Topographie des Diversen in der Gegenwart analysiert werden kann.

Innerhalb eines solches Gesellschaftsbildes hat sich die Ausstellung Immer etwas ferner eine Überprüfung der Kunstszene als Ziel gesetzt, um die bedeutenden Künstler und die ästhetischen Tendenzen am Anfang des dritten Jahrtausends zu erkennen. Im Ausstellungsgelände des Arsenale wird der Besucher zu einer Reise durch die Licht- und Schattenzonen unseres komplexen Zeitalters eingeladen, wobei er aber von der subjektiven und leidenschaftlichen Zusammenstellung der Wirklichkeitsfragmente geführt wird. Dieser Weg will die bedeutendsten Richtungen der zeitgenössischen Kunst weisen und damit behaupten, dass Kunst immer noch eine faszinierende Reise sein kann, solange der Reisende Prousts Motto in den Worten Deleuzes einhält: "Der wahre Träumer geht in die Welt, um Etwas nachzuweisen".

Rosa Martínez
Februar 2005

 

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© Text: Rosa Martínez, Biennale von Venedig; Website: Universes in Universe - Welten der Kunst