Universes in Universe / Documenta 11-Rundgang
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Luis Camnitzer: Interview
Von Pat Binder und Gerhard Haupt, Kassel, 7. Juni 2002


Universes in Universe: Was erscheint dir für das Verständnis des Kontextes Deiner Werke in der Documenta 11 besonders wichtig?

Luis Camnitzer: Neben einer neuen Arbeit baten mich die Kuratoren um die "Serie der Folter in Uruguay" von 1983 als, sagen wir mal, historischen Teil.

Die speziell für die Documenta erarbeitete Installation gehört zu einer Reihe von Installationen, wie der zur Biennale Venedig 1988 oder der zur Biennale São Paulo, in denen es mir um die Doppeldeutigkeit des Gefängnisses geht. Einerseits beziehe ich mich auf das physische Gefängnis, insbesondere das des politischen Häftlings, der vom Fluchtversuch halluziniert, jedoch scheitert. Andererseits ist es eine Anspielung auf das Gefangensein des Künstlers, der aus den Konventionen, den Stereotypen, den kulturellen Zwängen ausbrechen will, der versucht, originell zu sein, die Regeln zu brechen. Opfer seiner eigenen Halluzination - die Kunst ist ja nichts anderes -, scheitert auch er letztendlich. Mir ist es nicht so wichtig, wie das Werk gelesen wird, sei es auf die eine oder auf die andere Weise. Okwui Enwezor wollte, dass das Publikum durch die Serie zur Folter eintritt, bevor es zur neuen Installation kommt, um sie auf diese Weise zu kontextualisieren.

UiU: Hat dieser Bezug auf den Konflikt und das Schicksal des Künstlers autobiografische Aspekte?

L.C.: Ja, das ist in gewisser Weise das, was ich empfinde, obwohl es sehr deprimierend klingen mag. Aber letztendlich ist alles ein Gefängnis: der Körper, die Beschränkungen der Intelligenz und der Imagination, die Zwänge der Gesellschaft. Das ist wie bei den Schichten einer Zwiebel: Haut für Haut Gefangensein. Es gibt keinen Weg, sich völlig frei zu machen, es sei denn, man wird Buddhist oder ähnliches, aber so weit bin ich noch nicht.

Das reale Gefängnis ist im Grunde ein physisches Beispiel unendlich vieler Gefangenschaften. Es ist fast ein anekdotischer Unfall. Ständig tragen wir ein Gefängnis wie einen Anzug mit uns herum.

Zurück zu meinem Werk. Was mit der Folter begann, einen konkreten Bezug hatte und in gewisser Weise eine Hommage an Freunde von mir war, von denen ich wußte, dass sie gefoltert wurden, öffnete sich mehr und mehr hin zu einer allgemeineren Vision. Ich war immer der Meinung, je besser man die Grenzen kennt, um so mehr Möglichkeiten hat man, sich mit ihnen auseinander zu setzen und zu agieren, wenn schon nicht mit Freiheit, so zumindest doch mit Widerstand. Deswegen mache ich in diesem Sinne weiter, nicht aus Zynismus oder einer apokalyptischen Perspektive, sondern vielmehr um zu erfahren, wo die Grenze ist.

UiU: Ist die Möglichkeit, dem Gefängnis durch Imagination zu entfliehen, nicht das, was die Freiheit des Künstlers ausmacht?

L.C.: Ja, wenn das nur gelingen würde, aber das hört da auf, wo diese Imagination immer wieder in der Kommerzialisierung endet und in ein neues Gefängnis, nämlich das Objekt, eingeschlossen ist.

UiU: Aber was ist mit dem Moment des Schaffens an sich, des Versuchs, des Strebens nach Transzendenz... ?

L.C.: Für mich lebt das Kunstwerk ganze 15 Sekunden lang, und sobald ich es zum ersten Mal betrachte, wird es zum Objekt - und dabei stirbt es. Die große Frage ist doch immer, ob wir als Künstler Kultur schaffen oder ob wir Waren produzieren. Ich für meinen Teil möchte Kultur schaffen, aber die Gegenkräfte sind so groß, dass es am Ende immer auf eine Warenproduktion hinausläuft, und das ist deprimierend.

UiU: Das erinnert uns an die Aussagen in deinem Essay "Die Kunst der Korruption, die Korruption in der Kunst", den wir vor vier Jahren veröffentlicht haben.

L.C.: Ja, die sind für mich weiterhin gültig.

UiU: Hat der besondere Kontext der Documenta bei der Entscheidung eine Rolle gespielt, eine Installation gerade zu dieser Thematik zu zeigen?

L.C.: Zunächst einmal denke ich, diese Documenta ist von allen bisherigen diejenige, die sich am meisten mit solchen Problemen auseinandersetzt. Die von Catherine David habe ich allerdings nicht gesehen. Sie hat es wohl versucht, aber ich habe den Eindruck, dass es ihr nicht gelungen ist. Enwezors Documenta geht - vielleicht Dank der von David - einen Schritt weiter.

Aber abgesehen davon würde ich selbst dann daran teilnehmen, wenn dieses eine reaktionäre, institutionelle oder merkantile Veranstaltung wäre. Letztendlich geht es auch um die Macht, die man erlangt, und je mehr man ausstellt, um so mehr Macht gewinnt man. Das heißt, je mehr Macht ich habe, um so mehr Leute sehen meine Arbeit und hören, was ich zu sagen habe. Es würde zu einem negativen Phänomen werden, wenn ich mich durch diese Macht verführen ließe und meine Art zu arbeiten ändern würde, indem ich zum Beispiel mein Werk danach ausrichte, was sich am besten verkauft. Das wäre fatal. Es geht doch schließlich darum, die Korruption zu benutzen, ohne korrupt zu werden, was das große Dilemma ist, nicht wahr.

UiU: In gewisser Weise ist diese Documenta auch ein Ergebnis deiner Bemühungen als Kritiker, Kurator und Dozent, mehr internationale Aufmerksamkeit auf die Kunst der Amerikas, Asiens und Afrikas zu lenken. Empfindest du das so?

L.C.: Nun gut, es sind die Anstrengungen von uns allen, aber in gewisser Weise stimmt das schon.

Ich gestehe, dass ich befürchtet hatte, diese Documenta könnte nicht das künstlerische Niveau erreichen, das die Formalisten und, sagen wir mal, die Feinde, verlangen. Aber ich denke, sie hat es geschafft, sie hat ein hohes Niveau. Meine Befürchtungen resultierten aus einer mehr politischen als künstlerischen Sicht dieser Documenta. Ohne die entsprechenden Qualität wäre es ein Leichtes gewesen, sie als Zeichen politischer Korrektheit abzutun, Künstler hierher zu bringen, die bis jetzt keinen Zugang dazu hatten, und nachdem die Quote erfüllt ist, zur üblichen hegemonialen kuratorialen Praxis zurückzukehren. Aber ich denke, das ist nicht mehr möglich, man wird nicht mehr vergessen können, dass diese Documenta die Schwelle, die Grenze, überschritten hat. Jetzt sind wir alle sehr präsent und wir werden bleiben. Von daher erscheint sie mir als großer Erfolg.


© Text, Übersetzung: Pat Binder und Gerhard Haupt, 2002


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